Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
in die Villa, die in einem parkähnlichen, düsteren Garten stand. Halbhohe Mauern mit Eisengitterzäunen umgaben das Grundstück, das größer war, als es bei dem Blick vom Hafen aus geschienen hatte.
An der Haustür hing ein massiver Klopfer, dessen Klöppel eine Teufelsfratze darstellte. Letitia hielt ihn für scheußlich und geschmacklos. Sie trat über die Schwelle in eine düstere, große Diele und kam durch einen Vorraum von den Ausmaßen einer kleineren Halle. Buntglasfenster filterten das Licht. Palmwedelgewächse in Töpfen reichten bis fast zur Decke. Eine Treppe mit zwei Aufgängen führte ins obere Stockwerk. Wo es in den zweiten Stock und zum Dachboden ging, konnte Letitia von hier aus nicht erkennen.
Zwischen den Zimmerpalmen standen dunkle Statuen aus Erz. Es waren eigenartige Figuren mit fratzenhaften Gesichtern und spitzen Nasen. Sie trugen wallende Gewänder, und man konnte nicht erkennen, ob es sich um männliche oder weibliche Wesen handelte. Die Hände waren klauenartig, die unter den Gewändern vorschauenden Füße hornig und mit langen Nägeln versehen.
Letitias Geschmack waren solche Figuren nicht.
Die Luft im Haus war trocken. Letitia spürte eine unterschwellige Spannung. Ihr war unheimlich zumute. Doch sie sagte sich, dass sie sich das wohl nur einbildete.
Vielleicht gab es im Ort ja ein Gasthaus, in dem sie wohnen konnte und sie fand eine Ausrede, um dem Aufenthalt in diesem Haus zu entgehen.
»Bitte«, sagte Ann. »Helen wartet in ihrem Salon. Dort entlang, Letitia.«
Letitia folgte ihrer einladenden Geste in einen nach rechts abbiegenden Korridor. Die Morton-Frauen folgten ihr und tuschelten auf Gälisch miteinander.
Ann klopfte an eine mit Schnitzereien verzierten Tür.
»Herein!«, rief eine brüchige Stimme.
Ann öffnete die Tür. Letitia erblickte eine Szene, die sie nicht erwartet hatte. Sie hatte mit einer alten Frau gerechnet, aber sie sah eine Art Mumie. Helen Morton lag in einem Himmelbett, das in dem Salon aufgestellt worden war. Der Betthimmel und selbst die Laken waren blutrot und schwarz.
Außer dem Bett waren ein Kamin und Salonmöbel da. An der Wand hing ein Bild. Auf Kommode und Borden sowie in den Vitrinenschränken standen Figuren, Schalen und seltsame andere Ziergegenstände.
Die Frau in dem Bett zog nach dem ersten flüchtigen Rundblick Letitias Aufmerksamkeit auf sich. Die Stores waren zugezogen. Gaslicht erhellte das Zimmer gedämpft.
An Helen Mortons fleischlosem, knochigem Schädel klebten nur noch wenige graue Haarsträhnen. Die Augen der Greisin lagen tief in den Höhlen. Die Haut spannte sich gelblich. Helens Arm war erbärmlich dürr, die Hand glich einer Klaue.
An allen Fingern funkelten wertvolle Ringe mit Brillanten, Topasen und Rubinen. Helen war mit Schmuck geradezu überladen. Sie trug ein Diadem, Ohrringe, Armreifen und eine mehrreihige Halskette, die ein Vermögen wert sein musste.
Es klirrte und glitzerte bei jeder Bewegung Helens. Ihrem Aussehen nach musste Helen ungefähr über hundert Jahre alt sein. Wenn sie lächelte, wurde ihr Gesicht zur Fratze. Die gelben Zähne erregten Abscheu. Letitia empfand ein solches Grauen vor dieser Frau, dass sie am liebsten davongelaufen wäre.
Sie blieb abrupt stehen.
»Das ist Letty«, sagte Ann triumphierend und fügte gälische Worte hinzu.
»Letty«, ertönte die brüchige Stimme. »Endlich bist du gekommen. Ich habe dich schön sehnsüchtig erwartet, denn mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Komm her, Letty.«
Letitia zögerte. Sie versuchte, sich ihre Abneigung und ihren Widerwillen nicht anmerken zu lassen. Schließlich konnte kein Mensch für sein Aussehen, das durchs Alter bedingt war.
Sie zwang sich, auf Helen zuzugehen und ihr die Hand hinzustrecken.
Helens klauenartige Hand fasste Letitias zarte, junge. Letitia zuckte zusammen, denn Helens Haut war schuppig und porös, dazu kühl wie die einer Schlange. Der Griff der Greisin war angesichts ihres klapprigen Aussehens erstaunlich fest.
Sie quetschte Letitias Hand regelrecht und hielt sie, als ob sie sie nie wieder loslassen würde. Glänzende dunkle Augen musterten Letitia durchdringend, als ob sie bis auf den Grund ihrer Seele schauen könnten.
»Ja, du bist es«, wisperte Helen Morton, »auf die ich gewartet habe. Mary war nicht würdig. Aber jetzt bist du da.«
Die Morton-Frauen murmelten auf Gälisch. Als Letitia sich umschaute, sah sie verzückte Gesichter und nach unten gerichtete Handflächen. Die Morton-Frauen triumphierten
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