Nachts auf der Hexeninsel (German Edition)
lässt sich entschuldigen. Du siehst sie morgen wieder, Letitia. – Es ist ein großer Augenblick, dich im Haus der sinkenden Sonne in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Du bist unsere Hoffnung.«
»Aber warum das denn? Ich bin doch nur ein ganz normales Mädchen.«
»Du bist eine Morton. Du bist heimgekehrt, Letty, und es wurde die höchste Zeit. Wir Mortons müssen zusammenhalten.«
»Ich habe aber nicht vor, auf Dauer in Stornoway heimisch zu werden.«
Ann zwinkerte Letitia zu.
»Entscheide nicht vorschnell. Vielleicht überlegst du es dir noch.«
»Eins wollen wir doch einmal klarstellen, Tante Ann. Ich bin hier zu Gast, und ich gedenke, auch wieder abzureisen. Wenn ich gehen will, möchte ich nicht aufgehalten werden.«
Ann drückte Letitias Arm.
»Kindchen, so war es doch nicht gemeint. Natürlich kannst du Stornoway jederzeit verlassen, wenn du willst. Wir halten doch niemanden gegen seinen Willen fest. Wir hoffen aber doch, dass du uns für eine Weile das Vergnügen deiner Gesellschaft bereitest. Für uns bist du die verlorene Tochter, die ins Mutterhaus heimgekehrt ist.«
Letitia war beruhigt. Die Mortons hatten besondere Gebräuche. Das Nest Stornoway stellte .für sie den Nabel der Welt dar. Es mochte ihnen als das höchste erscheinen, hier zu wohnen und ihrem Clan anzugehören. Letitia empfand das jedoch nicht so.
Sie würde das Spiel bis zu einem gewissen Grad mitspielen, nahm sie sich vor, immer unter der Voraussetzung, dass nach ein paar Tagen für sie der Besuch vorbei sein und dass sie dann wieder nach London zurückkehren würde.
Letitia erhielt weitere Mortons vorgestellt. Von den Dienstboten abgesehen hieß im Haus jeder Morton. Es war schon beklemmend.
Eine gebückte ältere Frau drängte sich an Letitia heran.
»Ja, ja, auch ich bin eine Morton. Als Jonas Morton mich heiratete, erhielt ich den Namen, weil ich Helen gefiel.«
»Wie schön.«
Letitia hatte keine Ahnung, wer Jonas Morton sein mochte. Vielleicht der Dicke im Hintergrund, der vom kalten Büfett nicht wegzukriegen war und sich vollstopfte. Letitia antwortete höflich, wenn sie gefragt wurde. Sie erzählte von London und erwähnte ihre Mutter. Es erregte wieder Staunen, dass Letitia bei einer Bank arbeitete. Eine berufstätige Morton außerhalb von Stornoway stellte anscheinend etwas ganz Besonderes dar.
Vorsicht, ermahnte sich Letitia. Du heißt Cabell. Du musst dich nicht in den Morton-Clan hineinziehen lassen, wenn du nicht willst.
Der rotblonde junge Mann, den Letitia schon bei ihrer Ankunft bei der Kutsche begrüßt hatte, stand mit seiner blonden blassen Frau in der Ecke und schaute zu Letitia her. Letitia bildete in der Mitte des Raums den Mittelpunkt der Gesellschaft. Man umdrängte und umschwärmte sie, dass es ihr schon peinlich wurde.
Man wollte sich ihr gefällig erweisen, sie unterhalten, bot ihr Leckerbissen an und trank ihr zu.
Letitia trat aus dem Kreis, der sie umdrängte, und gesellte sich zu dem rotblonden Mann und der jungen Frau. Jetzt erinnerte sich Letitia wieder an die Namen der beiden: Fiona und Angus – natürlich Morton.
Fiona hob ihr Sektglas. Aber Letitia wehrte ab.
»Sei mir nicht böse, aber ich habe schon einen Schwips. Und ich habe gegessen, dass ich fast platze. Ihr Männer sagt kaum etwas, Angus?«
»Das ist bei den Mortons so üblich.«
Angus hatte eine frische Gesichtsfarbe und einen Schnurrbart. Seine Augen waren klar und blau. Er hielt sich sehr gerade. Letitia hatte den Eindruck, dass er den Abendanzug nicht gewohnt sei und sich in einem Sweater wohler gefühlt hätte.
»Was treibst du denn so beruflich, Angus?«
Letitia musste jeden duzen, sonst waren ihre Verwandten beleidigt. »Ich bin Fischer.«
»Hast du ein eigenes Boot?«
»Natürlich nicht. Ich fahre mit der Fangflotte der Mortons aus.«
»Wir haben zwanzig Fischkutter, außerdem Grundbesitz«, mischte Fiona sich ein. »Die drei kleinen Fabriken in Stornoway gehören auch alle uns. Und ein Großteil der Häuser im Ort.«
»Wie schön für die Mortons.« Fiona entschuldigte sich. Letitia unterhielt sich weiter mit Angus, obwohl ihr bewusst war, dass das bei den Morton-Frauen nicht üblich war. Die Männer hatten nicht viel zu melden und waren allenfalls geduldet. Thomas Morton, der Letitia hergebracht hatte, der Dicke und ein weiterer Mann standen zusammen und öffneten im Beisein der Morton-Frauen kaum den Mund.
Die Frau des Dicken ermahnte ihn. »Das reicht jetzt. Du hast genug gegessen. Nachher hast du
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