Nachts wenn der Teufel kam
Händen seinen Bewachern entgegen. Aber sie sind keine Mitglieder der Sonderkommission, und sie kennen die Weisung, mit Bruno Lüdke umzugehen wie mit einem rohen Ei, nicht.
Widerstand brechen, nennt man das.
Der Wagen fährt wie jeden Tag zum Kriminalmedizinischen Institut. Lüdke muß den Weg kennen. Aber die Angst lähmt seinen Blick. Er glaubt, die Fahrt ginge zu seiner Hinrichtung, und er wehrt sich verzweifelt.
So steht er zehn Minuten später, gefesselt, gehetzt, schweißnass, vor einer Versammlung junger Staatsanwälte. Ein erstes und einziges Mal macht das Reichssicherheitshauptamt eine Ausnahme und zieht für diese Gruppe den Schleier von der ›Geheimen Reichssache‹. Ein Arzt gibt Bruno Lüdke eine Beruhigungsspritze. Sie hilft nichts. Erst nach der zweiten beruhigt sich der Massenmörder. Als er schließlich merkt, daß es nicht zum Fallbeil geht, löst sich der verzweifelte, hysterische Widerstand in einem Lächeln. So steht er vor den Staatsanwälten, klein, geduckt, verkniffen lächelnd. Jetzt erst erkennt er einen der Psychiater, der ihn in den letzten Tagen untersuchte.
»Na, Bruno«, beginnt der Arzt, »nun erzähl mal allen, was du getan hast.«
»Det wisst ihr doch schon. Det hab' ick schon hundertmal erzählt. Und jetzt will ick raus hier. Und wenn ihr mir nicht bald rauslasst, denn sag' ick keen Wort mehr!«
»Wie viele Menschen hast du umgebracht?«
»Det weeß ick doch nicht mehr.«
»Wie viele glaubst du, daß du umgebracht hast?«
»Na, fuffzig mindestens. Können aber auch hundert jewesen sein.«
Man hat die Staatsanwälte vor der Demonstration nur ganz kurz über den Fall Lüdke informiert. Man hat ihnen nur das Allernotwendigste gesagt. Und jetzt stehen sie dem abgefeimtesten und gleichzeitig naivsten, dem größten Massenmörder der Kriminalgeschichte gegenüber, einem schwachsinnigen Trottel, einem Mann, der fast zwanzig Jahre lang die Polizei narrte und die Justiz wiederholt ad absurdum führte.
Und Lüdke beginnt zu erzählen, in manchmal unverständlichem Deutsch, holprig und primitiv. Daß alle schweigen, während er spricht, daß ihn alle anstarren, daß ihm alle mit entsetzter Spannung zuhören, macht ihn fast stolz, lockert ihm die Zunge.
Zum ersten Mal.
Hinter den Kulissen tobt der Kampf um Bruno Lüdkes weiteres Schicksal, obwohl es bereits so gut wie besiegelt ist. Längst hat das Reichssicherheitshauptamt die Weisung gegeben, Bruno Lüdke nach Abschluss der psychologischen und psychiatrischen Versuche unauffällig ›sterben‹ zu lassen.
Aber wer soll das besorgen?
Die Ärzte des Kriminalmedizinischen Instituts in Wien weigern sich. Ein Fernschreiben geht nach Berlin: ›Professor Sch. lehnt Liquidation ab.‹
Man könnte Lüdke in ein KZ einweisen und hier ermorden lassen. Aber dadurch würde der Personenkreis, der von seinen Untaten erfährt, noch größer. Außerdem will man keine Zeit mehr versäumen. Man will den Fall Lüdke sofort erledigen, bereinigen und aus der Welt schaffen.
Da tritt ein letzter Aufschub ein. Eine letzte Frist von acht Tagen.
Die Hamburger Kriminalpolizei wendet sich mit einer Beschwerde an das Reichssicherheitshauptamt. Sie missbilligt die Untersuchungsmethoden des Kriminalkommissars Franz. Sie bezweifelt die Stichhaltigkeit der Ergebnisse, die dieser junge Bursche erzielt hat. Die Hamburger Polizei – neben der Berliner verfügt sie über die modernste und schlagkräftigste Zentrale – behauptet, die Sonderkommission habe Bruno Lüdke die Geständnisse suggeriert, um mit einem Federstrich mehr als zwei Drittel aller ungeklärten Morde in Deutschland zu erledigen – um das Verdienst dieser Erledigung für sich in Anspruch zu nehmen.
Als Kriminalkommissar Franz mit seinen Beamten nach Hamburg kam, lag bereits die Verstimmung in der Luft. Es durften zwar Hamburger Beamte bei der Vernehmung des Lüdke anwesend sein, aber sie durften, auf ausdrückliche Weisung von Kriminalkommissar Franz, keine Fragen stellen. Fragen waren, um das gute Einvernehmen zwischen der Sonderkommission und Lüdke nicht zu gefährden, allein Kriminalkommissar Franz vorbehalten.
In anderen Städten waren die Polizeidienststellen fast froh über diese Regelung. Anders reagierte man in Hamburg. Hier wollte man die Mordfälle im eigenen Bezirk selbst klären oder wenigstens an der Klärung beteiligt sein. So verfolgten die dem Kriminalkommissar Franz zugeteilten Kriminalbeamten aus Hamburg mit unverhohlenem Misstrauen seine Arbeitsweise.
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