Nachtzug ins Glueck
1
Brenna Burke zwang sich, sich zu entspannen. Mit jedem Schritt prallten ihre Taschen gegen ihre Hüfte, obwohl der Mittelgang des Zuges so breit war, dass locker zwei Personen nebeneinander Platz hatten.
Es ging ihr gut, und bisher hielt sie sich wacker. Es war das fünfte Mal in diesem Jahr, dass sie in diesen Zug stieg, aber diesmal zählte es.
Alle hielten zu ihr. Als sie angekommen war, hatten die Gepäckträger sie angefeuert, und der Schaffner hatte sogar den Daumen hochgehalten.
»Du schaffst das, Brenna! Diesmal zeigst du es allen«, hörte sie jemanden sagen, drehte sich um und erblickte Sean, den jungen Schlafwagenschaffner mit den leuchtenden Augen, der ihr vor ein paar Wochen ihre Suite gezeigt hatte. Er half gerade einer behinderten Frau auf ihren Platz.
»Danke, Sean«, sagte sie mit einem strahlenden, optimistischen Lächeln.
Denn so bin ich, rief sie sich ins Gedächtnis. In allen Bereichen ihres Lebens packte Brenna den Stier bei den Hörnern und lebte. Sie liebte ihre Freunde, ihr Zuhause und ihre Arbeit als Reiseredakteurin. Wenn sie diesen letzten Dämon zähmen konnte, der sie die vergangenen zehn Jahre kleingehalten hatte, konnte sie endlich durchstarten.
Als sie zum ersten Mal versucht hatte, den Wochenendzug vom Lake Champlain zu den Niagarafällen zu nehmen, war sie durchgedreht, kaum dass sie durch die Tür gewesen war, und hatte wieder aussteigen müssen, wobei sie in ihrer Hast zu entkommen fast mehrere Fahrgäste niedergemäht hätte. Bei jedem darauf folgenden Versuch war zu verschiedenen Zeitpunkten vor der Abfahrt etwas schiefgegangen, und sie hatte den Zug wieder verlassen müssen.
Das hier war ihre Chance, und das Leben wartete nicht auf sie. Mit fast neunundzwanzig Jahren träumte sie von der Welt
da draußen
. Sie dachte darüber nach, wie es wäre, in Paris dreißig zu werden. Oder an irgendeinem tollen Strand in der Karibik. Das hier war der nächste Schritt, um das wahr werden zu lassen.
Wenn Brenna das schaffte – vier Tage in einem Zug zu verbringen –, schaffte sie alles.
Etwas stieß gegen sie. Sie blieb mitten im Gang stehen, in Gedanken versunken. Hinter ihr stauten sich die Leute, der Gang war voll. Zu voll. Sie fühlte sich eingeengt.
Atmen.
Sie atmete etwas Würziges ein … Nelken? Nein, Sandelholz. Ein schöner Duft. Beruhigend. Dann wurde ihr bewusst, dass er von jemandem kam, der direkt hinter ihr stand und ihr in den Nacken atmete, sein Körper nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, und drängelte …
Nein.
Der arme Kerl war dort eingeklemmt und wartete darauf, dass
sie
sich in Bewegung setzte. Sie drehte sich halb zu ihm um und lächelte ihn an.
»Entschuldigung«, sagte sie, stolz, wie fest ihre Stimme klang, wenn man bedachte, dass seine Brust ihr komplett die Sicht versperrte. Er war kräftig. Nicht dick, sondern groß. Muskulös. Breite Schultern.
Mist. Sie starrte ihn an. Er starrte zurück, obwohl er wohl eher versuchte, mit seinen braunen Augen irgendeine Superkraft auf sie auszuüben, damit sie sich vorwärtsbewegte. Dann lächelte er, und das half nicht gerade, sich von seinem Anblick loszureißen.
»Kein Problem«, sagte er. »Lassen Sie sich Zeit!«
Ganz unschuldig – sogar höflich – und doch war seine Stimme sexier als alles, was ihr seit Langem untergekommen war. Ihr Problem mit engen Räumen hatte leider auch seinen Tribut bei Intimitäten gefordert. Der Versuch, mit jemandem zu schlafen und ihn gleichzeitig zu bitten, ihr nicht zu nahezukommen, schlug erfahrungsgemäß kläglich fehl.
Irgendwie brachte Brenna es fertig, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich weiter durch den endlos langen Waggon zu bewegen. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wo sie war und welche Bedeutung das alles für sie hatte, und konzentrierte sich auf den schönen Zug, in dem sie das Wochenende verbringen würde. Der Zephyr von 1930 war neu ausgestattet worden, sodass er über sämtliche Annehmlichkeiten verfügte, die man bei zeitgemäßen Luxusreisen erwartete – einschließlich geräumiger Schlafabteile, die die ursprünglichen Einzelkabinen ersetzten, in denen kaum genug Platz für das ausziehbare Bett gewesen war.
Obwohl sein Namensvetter
Silver Streak
einer der schnellsten Züge seiner Zeit gewesen war, würde dieser hier bei relativ sanfter Geschwindigkeit dahinrollen, damit alle Passagiere die Aussicht genießen konnten, und häufig anhalten, um ihnen die Möglichkeit zu bieten, shoppen zu gehen und sich die Sehenswürdigkeiten
Weitere Kostenlose Bücher