Der Prinz im zerbrochenen Spiegel (Die Märchen um Zwergenkönig Jetts Söhne)
Es begab sich zu der Zeit, als der Zwergenkönig Jett nach alter Tradition seinen jüngsten Sohn Hanno als Boten zu den Menschen sandte, um seinen ältesten Sohn Apos mit einer menschlichen Königstochter zu verheiraten. Der menschliche König Rainer hatte fünf heiratsfähige Töchter, aber keine von ihnen war trotz guten Zuredens und wertvoller Geschenke bereit, sich mit einem Zwerg zu verheiraten. So ließ Rainer auf den Rat seiner Frau Gwyneth das Los entscheiden. Es traf die gertenschlanke Diana. Nach anfänglichem heftigen Widerstand gegen die Verbindung fügte sie sich bald frohgemutes in ihr Schicksal, nicht zuletzt deshalb, weil ihr Bräutigam zwar vierzig Zentimeter kleiner war als sie, aber mit einem blendenden Aussehen und einem muskulösen Körper gesegnet war, der das Herz einer jeden Frau höher schlagen ließ. Die Hochzeit von Apos und Diana wurde mit einem großen Fest begangen, nachdem der Bräutigam die Braut noch schnell in einem Wettlauf besiegt hatte.
Auf der Hochzeitsfeier im Schlossgarten von König Rainer war auch Bea, die jüngste Tochter des Königs, gerade 17 Jahre alt. Sie war mit ihren ein Meter sechzig die kleinste der Schwestern. Wie sie so gemeinsam mit Zwerg und Mensch feierte und ausreichend Gelegenheit hatte, den Kronprinzen zu beobachten, schwante ihr, wie furchtbar dumm sie gewesen war, den Heiratsantrag abzulehnen. Der Kronprinz war eine Wucht. Und so groß war der Größenunterschied gar nicht. Bea schätzte den Prinzen auf ein Meter vierzig. Er war für einen Zwerg ausgesprochen groß. Also betrug der Unterschied zwischen ihnen läppische zwanzig Zentimeter. Aber jetzt war es zu spät für Reue. Apos war in einer feierlichen Zeremonie mit Diana verbunden worden. Neidisch beobachtete Bea, wie die Zwerge das Gewicht ihrer neuen Kronprinzessin in Gold und Edelsteinen aufwogen. Diana erwartete ein Leben in unermesslichem Reichtum und Luxus.
Nun hatte König Jett vier weitere Söhne. Bea sagte sich, dass sie zwar nicht mehr Zwergenkönigin werden konnte, es ihr aber mit etwas Geschick und Glück gelingen mochte, einen der Brüder des Kronprinzen als Ehemann zu gewinnen. Je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr die Idee, zumal drei der vier Brüder ebenso wohlgestaltet waren wie der Kronprinz, jeder auf seine Art. Besonders angetan war sie von dem jüngsten Sohn des Zwergenkönigs , von Prinz Hanno. Sein wunderschönes langes, hellbraunes Haar verlockte dazu, die Hände darin zu versenken. In seine haselnussbraunen, von langen gebogenen Wimpern umrahmten Augen zu blicken, war jedes Mal ein fast sinnliches Vergnügen. Leider kam Bea allzu selten in diesen Genuss. Aus irgendeinem Grund schien Hanno sich als der Brautwerber verpflichtet zu fühlen, den ganzen Abend an der Seite König Rainers zu verbringen. Wenn er doch nur nicht so pflichtbewusst wäre!
Als die Speisen aufgetragen wurden, nahmen die Gäste ihre Plätze an der Hochzeitstafel ein. Die Königskinder beider Seiten waren zusammen platziert worden, was Bea in der Hoffnung, Hanno werde sich ihnen endlich anschließen, zunächst begrüßte. Zu ihrem Entsetzen musste sie allerdings bald feststellen, dass ausgerechnet Devlin als ihr Tischherr fungierte, der einzige von den Zwergenprinzen , dessen Aussehen mehr als nur zu wünschen übrig ließ. Mit seinem langen schwarzes Haar und seine kohlrabenschwarzen Augen wirkte er finster und dämonisch, worüber Bea vielleicht noch hätte hinwegsehen können. Aber hinzu kam, dass sein Körper seltsam verunstaltet wirkte. Es schien, als sei er irgendwann einmal zerbrochen worden und nicht wieder richtig zusammengewachsen. Wenn jemand dem Klischee einer verwachsenen Kreatur entsprach, das manche Menschen sich über die Zwerge machten, dann war er es. Und als habe das Schicksal ihn mit seinem seltsamen Körperbau noch nicht genug bestraft, verunzierten auch noch Narben sein Gesicht, die sich bei jedem Wort mitbewegten, das er sprach. Da Bea keine Möglichkeit sah, dem Essen an seiner Seite zu entkommen, ohne unhöflich zu sein, ließ sie sich schließlich zögernd neben ihm auf ihrem Stuhl nieder.
"Ihr macht ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, Prinzessin Bea. Freut ihr euch nicht für das Glück eurer Schwester?", fragte Devlin mit einer wunderbaren Samtstimme, die so gar nicht zu seinem hässlichen Aussehen passen wollte. Der Blick aus seinen schwarzen Augen schien sich in ihr Innerstes zu bohren. Sein wissender Gesichtsausdruck verkündete ihr, dass er genau wusste,
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