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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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den Tisch zu den anderen zu tun, blieb sie stehen, ließ den Blick stets von neuem über den grauen Einband gleiten, strich mit der Hand darüber, und erst nachdem einige weitere Sekunden verronnen waren, legte sie das Buch auf den Tisch, so sanft und vorsichtig, als könnte es durch einen Stoß zu Staub zerfallen. Einen Moment lang blieb sie danach beim Tisch stehen, und es sah aus, als würde sie es sich vielleicht anders überlegen und das Buch doch noch kaufen. Dann ging sie hinaus, die Hände in den Manteltaschen vergraben und den Kopf gesenkt. Gregorius nahm das Buch in die Hand und las: AMADEU IN·CIO DE ALMEIDA PRADO, UM OURIVES DAS PALAVRAS, LISBOA 1975 .
    Der Buchhändler war gekommen, warf jetzt einen Blick auf das Buch und sprach den Titel aus. Gregorius hörte nur einen Fluß von Zischlauten; die verschluckten, kaum hörbaren Vokale schienen nur als Vorwand dazusein, um das rauschende sch am Schluß stets von neuem wiederholen zu können.
    »Sprechen Sie Portugiesisch?«
    Gregorius schüttelte den Kopf.
    » Ein Goldschmied der Worte , heißt es. Ist das nicht ein schöner Titel?«
    »Still und elegant. Wie mattes Silber. Würden Sie ihn noch einmal auf Portugiesisch sagen?«
    Der Buchhändler wiederholte die Worte. Außer den Worten selbst konnte man hören, wie er ihren samtenen Klang genoß. Gregorius schlug das Buch auf und blätterte, bis der Text begann. Er reichte es dem Mann, der ihm einen verwunderten und wohlgefälligen Blick zuwarf und vorzulesen begann. Gregorius schloß beim Zuhören die Augen. Nach ein paar Sätzen hielt der Mann inne.
    »Soll ich übersetzen?«
    Gregorius nickte. Und dann hörte er Sätze, die in ihm eine betäubende Wirkung entfalteten, denn sie klangen, als seien sie allein für ihn geschrieben worden, und nicht nur für ihn, sondern für ihn an diesem Vormittag, der alles verändert hatte.
     
    Von tausend Erfahrungen, die wir machen, bringen wir höchstens eine zur Sprache, und auch diese bloß zufällig und ohne die Sorgfalt, die sie verdiente. Unter all den stummen Erfahrungen sind diejenigen verborgen, die unserem Leben unbemerkt seine Form, seine Färbung und seine Melodie geben. Wenn wir uns dann, als Archäologen der Seele, diesen Schätzen zuwenden, entdecken wir, wie verwirrend sie sind. Der Gegenstand der Betrachtung weigert sich stillzustehen, die Worte gleiten am Erlebten ab, und am Ende stehen lauter Widersprüche auf dem Papier. Lange Zeit habe ich geglaubt, das sei ein Mangel, etwas, das es zu überwinden gelte. Heute denke ich, daß es sich anders verhält: daß die Anerkennung der Verwirrung der Königsweg zum Verständnis dieser vertrauten und doch rätselhaften Erfahrungen ist. Das klingt sonderbar, ja eigentlich absonderlich, ich weiß. Aber seit ich die Sache so sehe, habe ich das Gefühl, das erstemal richtig wach und am Leben zu sein.
     
    »Das ist die Einleitung«, sagte der Buchhändler und begann zu blättern. »Und nun, so scheint es, beginnt er, Abschnitt für Abschnitt nach all den verborgenen Erfahrungen zu graben. Sein eigener Archäologe zu sein. Es gibt Abschnitte von mehreren Seiten, und dann wieder ganz kurze. Hier zum Beispiel ist einer, der aus einem einzigen Satz besteht.« Er übersetzte:
     
    Wenn es so ist, daß wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?
     
    »Ich möchte das Buch haben«, sagte Gregorius.
    Der Buchhändler klappte es zu und fuhr mit der Hand auf dieselbe zärtliche Weise über den Einband, wie es die Studentin vorhin getan hatte.
    »Ich habe es letztes Jahr in einer Ramschkiste eines Antiquariats in Lissabon gefunden. Und jetzt erinnere ich mich auch wieder: Ich habe es mitgenommen, weil mir die Einleitung gefiel. Irgendwie habe ich es dann aus den Augen verloren.« Er sah Gregorius an, der umständlich nach seiner Brieftasche tastete. »Ich schenke es Ihnen.«
    »Das ist…«, begann Gregorius heiser und räusperte sich.
    »Es hat ohnehin so gut wie nichts gekostet«, sagte der Buchhändler und reichte ihm das Buch. »Jetzt erinnere ich mich auch wieder an Sie: San Juan de la Cruz. Richtig?«
    »Das war meine Frau«, sagte Gregorius.
    »Dann sind Sie der Altphilologe vom Kirchenfeld, sie hat von Ihnen gesprochen. Und später einmal hörte ich noch jemanden von Ihnen sprechen. Es klang, als seien Sie ein wandelndes Lexikon.« Er lachte. »Ein ausgesprochen beliebtes Lexikon.«
    Gregorius steckte das Buch in die Manteltasche und gab ihm die Hand. »Vielen

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