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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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IHR GANZES LEBEN lang sollte sie fließend sein. Aber was ihre Konturen beherrscht und zu einer Mitte gezogen, was sie gegen die Welt erleuchtet und ihr eine innere Macht verliehen hatte, war das Geheimnis. Nie sollte sie daran in klaren Begriffen denken können, da sie fürchtete, sein Bild zu überfluten und aufzulösen. Dennoch hatte es in ihr einen fernen und lebendigen Kern gebildet und niemals den Zauber verloren – es festigte sie in ihrer unlösbaren Vagheit als der einzigen Wirklichkeit, die für sie immer eine verlorene sein musste.
    Die beiden beugten sich über den Rand des brüchigen Stegs, und Virgínia spürte die Unsicherheit in ihren nackten Füßen, als stünden sie haltlos über dem ruhigen Kreiseln des Wassers. Es war ein heftiger und trockener Tag, in weiten, festen Farben; in den Bäumen rauschte die laue Luft, die von geschwinden Windstößen kalt gekräuselt wurde. Durch das zerschlissene, löcherige Mädchenkleid wehte immer wieder ein kühles Frösteln. Den ernsten Mund an den toten Ast der Brücke gepresst, tauchte Virgínia ihren zerstreuten Blick ins Wasser. Plötzlich erstarrte sie, angespannt und leicht:
    »Schau mal!«
    Daniel wandte rasch den Kopf – an einem Stein hatte sich ein Hut verfangen, nass, schwer und dunkel vom Wasser. Der Fluss riss ihn rücksichtslos mit, aber noch widerstand er. Bis er die letzte Kraft verlor, von der flinken Strömung fortgezogen wurde und unter Sprüngen, fast fröhlich im Schaum versank. Unentschlossen, überrascht standen sie da.
    »Wir dürfen das keinem erzählen«, wisperte Virgínia schließlich, die Stimme entfernt und schwindelig.
    »Ja …« Selbst Daniel war erschrocken und stimmte zu … Das Wasser floss weiter dahin. »Auch nicht, wenn jemand fragt, ob wir was über den Ertrunk…«
    »Ja!« Virgínia schrie das fast … Sie schwiegen angestrengt, die Augen geweitet und wild.
    »Virgínia …«, sagte der Bruder langsam, mit einer Härte, die sein Gesicht ganz kantig machte, »ich schwöre jetzt.«
    »Ja … Mein Gott, aber man schwört doch immer …«
    Daniel überlegte, den Blick auf sie gerichtet, und sie regte keine Miene, wartete nur, dass er in ihr die Antwort fand.
    »Zum Beispiel … dass alles, was wir sind … zu nichts werden soll … wenn wir jemand davon erzählen.«
    Er sagte das so ernst, er sagte das so schön, der Fluss floss dahin, der Fluss floss dahin. Das staubbedeckte Laub, das dichte und feuchte Laub an den Ufern, der Fluss floss dahin. Sie wollte antworten und Ja sagen, glühend, fast glücklich Ja!, mit trockenen Lippen lachend … aber sie konnte nicht sprechen, sie wusste nicht zu atmen; wie verstörend das alles. Die Augen geweitet, das Gesicht mit einem Mal klein und farblos, wagte sie ein vorsichtiges Nicken. Daniel entfernte sich, Daniel entfernte sich immer mehr. Nein!, wollte sie schreien und dass er auf sie warten solle, sie nicht allein lassen über dem Fluss; doch er setzte den Weg fort. Während das Herz in einem Körper schlug, aus dem plötzlich das Blut gewichen war, während das Herz rasend pumpte und fiel und das Wasser dahinlief, versuchte sie, die Lippen einen Spalt weit zu öffnen, ein Wort zu hauchen, so blass es auch sein mochte. Wie der Schrei im Albtraum, den man nicht herausbringt, so wurde kein Laut hörbar, und die Wolken zogen schnell über den Himmel, unterwegs zu einem Ziel. Unter ihren Füßen rauschte das Wasser – in einer klaren Halluzination ging ihr durch den Sinn: O ja, dann würde sie fallen und ertrinken, o ja. Etwas, so intensiv und fahl wie das Entsetzen, aber triumphierend, eine verrückte und achtsame Freude erfüllte jetzt ihren Körper, und sie wartete auf den Tod, die Hand um den Brückenast geschlossen, als wäre es für immer. Da wandte Daniel sich um.
    »Komm«, sagte er überrascht.
    Vom stillen Grund ihres Schweigens aus sah sie ihn an.
    »Jetzt komm schon, du blöde Gans«, sagte er aufbrausend.
    Ein toter Moment dehnte alles in die Länge. Sie und Daniel waren zwei reglose, für immer unbewegliche Punkte. Aber ich bin schon gestorben, schien sie zu denken, während sie sich von der Brücke löste, als würde sie mit einer Sichel abgeschnitten. Ich bin schon gestorben, dachte sie weiter, und auf fremden Füßen lief ihr weißes Gesicht schwerfällig zu Daniel.
    Als sie auf der Straße gingen, schlug das Blut wieder rhythmisch in ihren Adern, sie kamen schnell vorwärts, gemeinsam. Im Staub sah man die zögerliche Spur des einzigen Automobils von

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