Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Dank.«
Der Buchhändler begleitete ihn zur Tür. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht…«
»Keineswegs«, sagte Gregorius und berührte ihn am Arm.
Auf dem Bubenbergplatz blieb er stehen und ließ den Blick kreisen. Hier hatte er sein ganzes Leben verbracht, hier kannte er sich aus, hier war er zu Hause. Für einen, der so kurzsichtig war wie er, war das wichtig. Für einen wie ihn war die Stadt, in der er wohnte, wie ein Gehäuse, eine wohnliche Höhle, ein sicherer Bau. Alles andere bedeutete Gefahr. Nur jemand, der ähnlich dicke Brillengläser hatte, konnte das verstehen. Florence hatte es nicht verstanden. Und vielleicht aus dem gleichen Grunde hatte sie nicht verstanden, daß er nicht gerne flog. Ein Flugzeug besteigen und wenige Stunden später in einer ganz anderen Welt ankommen, ohne daß man Zeit gehabt hatte, einzelne Bilder von der Strecke dazwischen in sich aufzunehmen – das mochte er nicht, und es verstörte ihn. Es ist nicht richtig , hatte er zu Florence gesagt. Was meinst du: nicht richtig? , hatte sie gereizt gefragt. Er hatte es nicht erklären können, und so war sie denn immer öfter allein geflogen, oder mit anderen, meistens nach Südamerika.
Gregorius trat vor das Anzeigenfenster des Kinos Bubenberg. In der Spätvorstellung gab es einen Schwarzweißfilm nach einem Roman von Georges Simenon: L’homme qui regardait passer les trains. Der Titel gefiel ihm, und auch die Ausschnitte betrachtete er lange. Ende der siebziger Jahre, als jedermann einen Farbfernseher kaufte, hatte er tagelang vergeblich versucht, noch ein Schwarzweißgerät zu bekommen. Schließlich hatte er eins aus dem Sperrmüll mit nach Hause genommen. Zäh hatte er auch nach der Heirat daran festgehalten, es stand in seinem Arbeitszimmer, und wenn er allein war, ließ er den farbigen Apparat im Wohnzimmer links liegen und schaltete die alte Kiste ein, die flimmerte und in der die Bilder gelegentlich rollten. Mundus, du bist unmöglich , hatte Florence eines Tages gesagt, als sie ihn vor dem häßlichen, unförmigen Kasten fand. Daß sie ihn anzureden begann wie die anderen und er nun auch zu Hause wie ein Faktotum der Stadt Bern behandelt wurde – das war der Anfang vom Ende gewesen. Als der Farbfernseher mit der Scheidung aus der Wohnung verschwunden war, hatte er aufgeatmet. Erst Jahre später, als die Bildröhre ganz kaputt war, hatte er sich ein neues Gerät in Farbe gekauft.
Die Ausschnitte im Kinofenster waren groß und gestochen scharf. Der eine zeigte das bleiche, alabasterne Gesicht von Jeanne Moreau, die sich feuchte Strähnen aus der Stirn strich. Gregorius riß sich los und ging ins nächste Café, um das Buch näher zu betrachten, in dem der adlige Portugiese versucht hatte, sich mit seinen stummen Erfahrungen in Worte zu fassen.
Erst jetzt, da er mit der Bedächtigkeit des Liebhabers alter Bücher langsam Seite für Seite umblätterte, entdeckte er das Portrait des Autors, ein altes, zur Zeit der Drucklegung bereits vergilbtes Foto, auf dem die ehemals schwarzen Flächen zu dunklem Braun ausgeblichen waren, das helle Gesicht vor einem Hintergrund aus grobkörnigem, schattenhaftem Dunkel. Gregorius putzte die Brille, setzte sie wieder auf und war innerhalb weniger Augenblicke vollständig von dem Gesicht gefangengenommen.
Der Mann mochte Anfang dreißig sein und strahlte eine Intelligenz, ein Selbstbewußtsein und eine Kühnheit aus, die Gregorius förmlich blendeten. Das helle Gesicht mit der hohen Stirn war überwölbt von üppigem dunklem Haar, das matt zu glänzen schien und, nach hinten gekämmt, wie ein Helm wirkte, aus dem seitlich in weichen Wellen Strähnen auf die Ohren fielen. Eine schmale, römische Nase gab dem Gesicht große Klarheit, unterstützt von kräftigen Augenbrauen, die gesetzt waren wie feste Balken, gemalt mit breitem Pinsel und nach außen hin früh abbrechend, so daß eine Konzentration zur Mitte hin entstand, dorthin, wo die Gedanken waren. Die vollen, geschwungenen Lippen, die im Gesicht einer Frau nicht überrascht hätten, waren eingefaßt von einem dünnen Lippenbärtchen und einem gestutzten Kinnbart, der durch den schwarzen Schatten, den er auf den schlanken Hals warf, bei Gregorius den Eindruck hinterließ, als müsse man auch mit einer gewissen Rauheit und Härte rechnen. Was jedoch alles entschied, waren die dunklen Augen. Sie waren von Schatten untermalt, doch waren es nicht Schatten der Müdigkeit, Erschöpfung oder Krankheit, sondern Schatten des Ernstes und der
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