Nachtzug
Deshalb war die Suche nach Ihnen so schwierig. Aber als ich das hier gesehen hatte«, sie tippte auf die Zeitung, »da drängte es mich mehr denn je, Sie zu finden, Sie nach all den Jahren ausfindig zu machen. Er ist tot, Jan. Wir müssen ihn nicht mehr fürchten.«
Dr. Szukalski nahm die Zeitung und überflog noch einmal die Spalte, die den Tod des Juwelenhändlers schilderte. »Wie ironisch. Er wurde nicht allein durch eine Gewehrkugel getötet, sondern auch durch den Biß eines großen Hundes, der ihn am Hals packte. Das nenne ich Gerechtigkeit. Der Bluthund stirbt in den Fängen eines Hundes.«
Sie verweilten einen Augenblick bei diesem Gedanken, dann blickte Jan wieder die Person an, die ihm am Schreibtisch gegenübersaß. Jahrzehnte älter, das Gesicht einer alten Frau, doch noch immer eindeutig das hübsche Gesicht von Maria Duszynska. »Und Pfarrer Wajda? Wissen Sie etwas …?«
»Er ist als Märtyrer gestorben. Max Hartung hat schließlich doch noch einen von uns zu fassen bekommen. Ich erfuhr von dem Vorfall durch Gerüchte, die nach Müllers Rückkehr im Labor umgingen. O ja, ich sehe, Sie sind überrascht. Müller ist noch einmal nach Sofia zurückgekehrt. Das haben Sie wohl nicht gewußt. Und Hartung auch. Eigentlich wollten sie uns an den Kragen, doch zu ihrem Ärger mußten sie feststellen, daß wir uns schon davongemacht hatten. Sie haben Sie wohl nur um Stunden verfehlt.«
»Barmherziger Gott!« murmelte er auf polnisch.
»Sie waren sich sicher, aus Piotr herauspressen zu können, wo sie uns {357} finden können. Doch natürlich verriet er nichts, und so töteten sie den Wehrlosen in der Krypta in einem Kugelhagel aus ihren Maschinenpistolen. Meinen Sie nicht auch, daß er es irgendwie so gewollt hat, Jan? Hartung ist nicht wieder nach Majdanek zurückgekehrt«, fuhr sie fort, ohne Szukalskis Antwort abzuwarten. »Er und Müller planten, sich gemeinsam nach Südamerika abzusetzen, aber Müller wurde im Warschauer Aufstand getötet. Hartung entkam, wie Sie ja wissen, erkaufte sich den Weg in die Freiheit mit dem Gold aus den Zähnen toter Juden. Er ließ sich in Südamerika als Schmuckfabrikant nieder, führte aber zeit seines Lebens ein Schattendasein, da er wußte, daß die Israelis ihn als Kriegsverbrecher suchten.«
»Jetzt haben sie ihn wohl endlich gefunden.«
»Ja, Jan, das haben sie wohl.«
»Was geschah mit Anna und Keppler? Haben Sie je etwas über sie in Erfahrung bringen können?«
Jetzt erhellte sich ihre Miene, und sie verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. »Ich stehe in Kontakt mit ihnen, Jan. Sie leben in Essen, in Westdeutschland, und haben eine Familie. Wie es scheint, ist ihnen die Flucht durch Rumänien geglückt. Sie haben mir aber eine ziemlich aufregende Geschichte erzählt, wonach sie von den Grenzwachen mit Waffengewalt festgehalten worden seien. Hans hatte ihnen vorgelogen, die Russen seien im Anmarsch, als ganz zufällig wirklich ein russisches Truppenkontingent auftauchte. So ergab es sich, daß die Grenzwachen mit nach Rumänien flohen! Nach dem Krieg fand Hans seine Eltern und seine Großmutter wieder. Ob Sie es glauben oder nicht, Hans Keppler ist jetzt leitender Angestellter bei Krupp.«
Jan lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück; ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Haben Sie je erfahren, was mit Dieter Schmidt geschah?«
»Tot. Zwei Wochen nach Piotrs Tod und Hartungs Rückkehr nach Warschau veranstaltete Schmidt eine wilde Razzia auf dem Land. Er verhaftete und verhörte Leute wegen der Epidemie und wollte unbedingt Antworten aus ihnen herausbekommen, die ihn zum Helden machen sollten. Nach allem, was ich hörte, soll der Kerl ziemlich gewütet haben. Und während sich Dieter Schmidt in einem der entlegenen Dörfer aufhielt, Jan, infizierte er sich wirklich mit Fleckfieber und {358} starb daran. Ich sah mit eigenen Augen das Ergebnis seines Komplementbindungs-Reaktionstests im Labor.«
»Mein Gott … Maria, Maria …« Jan Szukalski erhob sich hinter dem Schreibtisch und trat ans Fenster. Er blickte hinunter auf das Leben und Treiben im Central Park und meinte für einen Augenblick, die gepflasterte Straße aus einer längst vergangenen Zeit zu sehen. »Wie lange ist das alles schon her! Und doch … Ich sehe noch alles vor mir, als wäre es gestern gewesen. Ich habe in den letzten paar Jahren nicht oft darüber nachgedacht, aber mein Gott, Maria, wie lebhaft haben Sie mir alles ins Gedächtnis zurückgerufen …«
Sie erhob sich
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