Nachtzug
reden könne, und daß ihre Papiere bald ungültig würden. Sie fügte hinzu, es sei wohl nicht klug, wenn sie ihre wahre Identität beibehalte oder versuche, Arbeit als Ärztin zu finden.
Ohne weitere Fragen zu stellen – denn ähnliche Geschichten hatte sie schon hundertfach gehört –, versprach die junge Frau, ihr zu helfen. Maria brauche eine neue Identität, die Berechtigung zum Bezug von Lebensmittelmarken, eine Arbeit. Das Tempo und die Reibungslosigkeit, mit der dies alles vonstatten ging, überraschten Maria. Bereits am nächsten Tag waren ihre neuen Papiere fertig, und sie bekam ein Färbemittel, um ihre Haarfarbe zu verändern. Sie mußte der jungen Frau versprechen, daß sie einen Teil ihres ersten Lohns an sie abtreten würde, der der Widerstandsbewegung zukommen sollte. Maria erklärte sich, ohne zu zögern, mit allem einverstanden. Mit einem neuen Namen, schwarzem Haar, einer Hornbrille und alten Kleidern verwandelte sie sich in eine reizlose alte Jungfer, deren Geschichte lautete, daß sie vor den näherrückenden Russen geflohen war.
Warschau war Durchgangsstation für Tausende Flüchtiger, so daß niemandem die Anwesenheit einer Arbeiterin mehr im Krankenhauslabor auffiel. Wegen der großen Zahl Verwundeter, mit denen das Krankenhaus überfüllt war, und dem sich daraus ergebenden gewaltigen Arbeitspensum auf allen Stationen, fiel es Maria relativ leicht, in der Anonymität unterzutauchen.
{339} Jan Szukalski wurde von Woche zu Woche unruhiger. Mit peinlicher Sorgfalt studierte er die täglichen Berichte aus dem Warschauer Labor auf Bemerkungen, die darauf hindeuteten, daß entweder der Komplementbindungs-Reaktionstest oder der Rickettsien-Agglutinationstest bereits zur Verfügung stand. Er wußte, daß ihm ernste Gefahr drohte, sobald die neuen Tests angewandt wurden und die positiven Ergebnisse des Weil-Felix-Tests widerlegten. Jedem Laboranten würde auf Anhieb klar, daß die ganze Epidemie letztendlich doch ein Schwindel gewesen war, genau wie Hartung es seinerzeit vermutet hatte.
Szukalski hatte den Entschluß gefaßt zu fliehen, sobald es einen Hinweis darauf gab, daß die neuen Tests im Gebrauch waren. Bis dahin wollte er die Bevölkerung von Sofia weiter mit seinem Proteus-Impfstoff schützen.
Maria Duszynska brauchte nicht lange, bis sie sich in dem großen, belebten Labor auskannte, und schließlich gelangte sie auch in die Abteilung, wo Laboranten mit den zahlreichen Blutproben aus Ost- und Zentralpolen den Weil-Felix-Test durchführten. Nachdem sie sich nun tagtäglich nach einem gewissen Schema durchs Labor bewegte und sich mit den anderen Arbeitern oberflächlich bekanntgemacht hatte, konnte sie schließlich, ohne Verdacht zu erregen, wie zufällig vor das Zentralregister treten, in dem alle Testergebnisse verzeichnet waren, und einen Blick auf die täglichen Eintragungen werfen.
Sofia tauchte hier häufig auf, und der Name Szukalski erschien daneben. Die Zahl der gemeldeten Fälle verringerte sich in genau dem Maße, wie es von ihm geplant war. Und es beruhigte sie zu wissen, daß er noch am Leben war.
Unter den Offizieren in Majdanek hatte sich die Nachricht verbreitet, daß es bald notwendig werden könnte, das Lager wegen des fortdauernden russischen Vormarsches zu räumen. Das Todeslager sollte jedoch bis zur letzten Minute uneingeschränkt weiterbetrieben werden.
Maximilian Hartung haßte seinen Dienst in Majdanek, nicht wegen des Tötens, sondern weil er beim Oberkommando in Vergessenheit {340} geraten war. Er war ein Verstoßener, der wußte, daß er bald um sein Leben rennen mußte. Deutschland war dabei, den Krieg zu verlieren, und es war nicht zu erwarten, daß die Alliierten die Notwendigkeit der Massenvernichtung einsehen würden. Er durfte sich auf keinen Fall gefangennehmen lassen, denn mit der SS würde keiner zimperlich verfahren. Und doch waren diese trüben Aussichten für Hartung weniger schlimm als das unerträgliche Schweigen von Fritz Müller in Warschau. Was war seit ihrem Briefwechsel geschehen? Wann würden die speziellen Tests, die Fritz erwähnt hatte, endlich eintreffen? Wann endlich bekäme er Gewißheit?
Während er darüber nachdachte, gingen ihm immer wieder die Namen derer durch den Kopf, die er in Sofia noch einmal besuchen wollte, und er malte sich aus, welche Grausamkeiten er ihnen zufügen würde, wenn er ihrer erst habhaft würde. Dr. Jan Szukalski. Dr. Maria Duszynska. Pfarrer Piotr Wajda. Vielleicht auch noch andere? Wenn
Weitere Kostenlose Bücher