Nächstenliebe: Thriller (German Edition)
die E-Mail geärgert hatte, die er dem Kardinal vor Kurzem geschickt hatte, mit der Nachricht, dass das Buch sich so gut wie in seinem Besitz befand und er es sehr bald nach Rom bringen würde. Die Antwort des Kardinals war kurz, aber überschwänglich gewesen.
Wie würde er jetzt reagieren, wenn er hörte, dass er versagt hatte? Wäre er enttäuscht? Sicherlich wäre er das. Und das mit Recht. Sollte Ismail doch erst nach dem Deutschen suchen, das Buch beschaffen und dann nach Rom reisen?
Das wäre eine Option. Aber es kann Tage dauern, bis er den Deutschen ausfindig gemacht hat. Was, wenn der das Buch nicht mehr in Händen hält? Wie würde er dem Kardinal dann erklären, wo er all die Zeit gewesen ist?
Nein, er wusste, er musste sich dem stellen. Sein Vorsatz, nichts von der alten Frau erzählen zu wollen, nagte schon schwer an seiner Loyalität gegenüber seinem Herren. Aber noch eine weitere Lüge, das konnte er mit sich nicht vereinbaren.
Stärke wächst durch die schwachen Momente, denen man widersteht, sagte er sich und war bereit sich dem Gericht seines Herren zu stellen.
Kapitel 68
Rebecca konnte immer noch nicht begreifen, was Esther ihr erzählt hatte. Aber je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr ergab alles einen Sinn.
All die Jahre hatte sie das Gefühl, dass eine bestimmte Macht ihre Tante umgab, dass sie ein besonderer Mensch war. Es gab viele Nächte in ihrer Kindheit, in denen sie oft geträumt hatte, ihre Tante sei ein Engel, von Gott gesandt, um sie zu beschützen. Mit dem Alter legte sie diesen naiven Wunschgedanken ab. Aber das Gefühl, dass ihre Tante etwas Besonderes war, blieb. Und jetzt kannte sie die Antwort.
Der Papst, Ali, all diese Ereignisse waren nun so klar und verständlich.
In all den Jahren hatte sie nie ihre Tante auf all die kleinen Wunder angesprochen, und in Rebeccas Augen waren viele Dinge, die mit Esther zu tun hatten, ein Wunder. Selbst, dass Esther ihr diese wunderbare Erziehung ermöglicht hatte. Denn ihr hatte sie eine gute Schulbildung und einen noch besseren Job zu verdanken.
Esther war in all den Jahren, in denen nun Rebecca bei ihr wohnte, immer nur auf eins bedacht gewesen: anderen Menschen zu helfen. Keine Mühe schien ihr zu groß, wenn sie dies tun konnte. Egal ob Juden, Christen, Moslems oder Menschen anderer Religionen. Es war völlig egal, ob sie gläubig waren oder nicht. Was zählte war, dass sie Hilfe bedurften.
Sie sagte immer: „Vor Gott sind alle Menschen gleich.“ Und sie lebte dies. Dafür bewunderte Rebecca sie unendlich. Ob sie ihr böse war, dass sie ihr all die Jahre die Wahrheit verschwiegen hatte?
Diese Frage stellte sich für Rebecca nicht. Nie könnte sie ihrer Tante böse sein. Dafür hatte sie ihr schon mehr als einmal bewiesen, dass sie der selbstloseste Mensch ist, den sie kannte. Seit damals hatte sie nie an der Liebe ihrer Tante gezweifelt. Und sie glaubte nicht nur ihr, sondern sie war überzeugt davon, dass ihre Tante es ihr vorher nicht erzählt hatte, weil sie Rebecca nicht in Gefahr bringen wollte. Schließlich war dies nicht irgendeine Trivialität, die sie erfahren hatte. Hier ging es um weitaus mehr.
Ein Wunder? Ja, das beschrieb es wohl annähernd. Und Rebecca fühlte Stolz. Stolz, dass sie dieses Wunder miterlebte. Und dass es ihre Tante war. Somit war sie ein Teil dieser Geschichte, dieses Wunders.
Rebecca konnte sich aber auch gut vorstellen, welcher Missbrauch mit dieser Wahrheit betrieben werden könnte.
Sicherlich könnte man dies richtig vermarktet auch zu sehr viel Geld machen.
Sie musste kurz lachen bei diesem Gedanken. Nein, ihre Tante hätte sich und ihre Ideale nie gegen Geld oder sonstige weltliche Güter eingetauscht. Sie vertraute ihrer Tante bedingungslos.
Ihre Tante gab ihr sehr viel Rückhalt und dieser Rückhalt hatte sie so erfolgreich gemacht. Sie bedauerte die Menschen, die niemanden hatten, dem sie sich anvertrauen konnten. Und während ihrer Arbeit in London hatte sie viele Menschen kennengelernt, die ihre Karriere über ihr privates Glück stellten. Sie empfand diese Menschen als sehr einsam. Was taten diese, wenn es mal in ihrem Job nicht so gut lief? Zu wem gingen sie, an welche Schulter lehnten sie sich an? Ohne wirkliche Freunde oder den Rückhalt ihrer Familien? Sie konnte immer auf ihre Tante zählen. Und obwohl Rebecca sehr viel Wert auf ihr Privatleben legte, war sie dennoch erfolgreich. Erfolg und Vernachlässigung des privaten Glückes mussten nicht Hand in Hand
Weitere Kostenlose Bücher