Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17
Sorge und Verzweiflung gewesen. Aber der Wirkstoff der Injektion dämpfte seine Emotionen wie eine Verpackung aus Watte.
Er wusste nicht mehr weiter. Auf eigene Faust nach Annika zu suchen hatte offenkundig keinen Sinn. Es war aussichtslos und brachte ihn nur in Schwierigkeiten. Besser war, am Morgen mit dem Kreuzworträtsel-Band als »Beweis« noch einmal nachdrücklicher bei der Krankenhausverwaltung nachzuforschen. Vielleicht hatte der Pförtner der Klinik sich getäuscht, als Kai dort angerufen hatte. Oder er hatte Annikas Namen beim Eintippen falsch geschrieben.
Aber nichts davon erklärte, warum Annika ihn nicht anrief, nachdem er sie telefonisch nicht erreichen konnte.
Wie es aussah, blieb ihm keine andere Wahl mehr, als Annika bei der Polizei als vermisst zu melden. Auch dafür benötigte er den »Beweis«, das Buch.
Kai blieb stehen. Da seine Jacke in der Notaufnahme lag und die Taschen seiner Hose nicht groß genug für das Buch waren, hatte er es am Waschbecken zurückgelassen. Bevor er das Krankenhaus verließ, musste er den Band wiederbeschaffen.
Er machte kehrt und lief den Weg zurück. Zumindest glaubte er das. Hoffte es. Sein Orientierungssinn war nie ausgeprägt gewesen, außerdem war er noch immer leicht benommen von der Beruhigungsspritze. Das Leitsystem der Klinik verwirrte ihn erst recht.
Endlich erblickte er die roten Schalensitze und das WC-Schild. Er betrat den Toilettenvorraum.
Da war das Waschbecken, der Spiegel, der Abfallkorb mit den benutzten Papierhandtüchern.
Das Buch jedoch fehlte.
Kai schöpfte sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Der Spiegel zeigte ihm ein Antlitz, dessen ungesunde Farbe, dunkle Augenhöhlen und rote Augen nichts mehr mit der Schminke zu tun hatten, die inzwischen fast vollständig abgewaschen war.
Die Frage lautete: Hatte der nächste Freund englischer Kreuzworträtsel das Buch an sich genommen – oder sahen hier alle Toiletten gleich aus? Hatte er sich verirrt?
Da kam ihm ein Einfall.
Kai öffnete die Tür zu den Urinalen und ließ den Blick über die Filzstift- und Kugelschreiber-Graffiti schweifen – die Sudler machten auch vor Hospitälern nicht halt. Aber keine der Parolen oder Kritzeleien kam ihm bekannt vor.
Er hatte sich verirrt.
*
»Annika.« – »Annika.« – »Annika.«
Die Stimme war wie ein Anker, der eingeholt wurde und an dem sie sich festhielt, während er aus der Tiefe nach oben stieg.
Die Stimme klang weich, sie war feminin, neutral und künstlich. Wie die Stimme aus dem Fahrstuhl.
3. Kellerebene.
2. Kellerebene.
1. Kellerebene.
Hauptebene. »Annika, du bist da. Wach auf, Annika!«
Annika schlug die Augen auf.
Sie sah den Anker neben ihrem Kopf baumeln. Als ihre Sinne sich allmählich klärten, erkannte sie, dass es der Telefonhörer war, der an seiner Schnur vom Bettschrank herabhing. Er war stumm. Sicher war es nur eine Halluzination gewesen, dass die Fahrstuhlstimme aus der Hörmuschel erklungen war. Solche Halluzinationen kamen beim Erwachen aus der Narkose häufig vor.
In ihrer leichten postnarkotischen Euphorie fragte Annika sich gar nicht, warum sie im Krankenzimmer aufgewacht war statt im Beobachtungsraum.
Wie viel Uhr war es?
Sie erinnerte sich, ihren Wecker auf den Bettschrank gestellt zu haben. Aber das Kopfteil des Bettes war zu flach, und ihr Kopf lag zu niedrig, um das Zifferblatt sehen zu können. Sie versuchte, den Kopf zu heben, war aber noch zu schwach.
Annika besann sich auf die elektrische Verstellfunktion des Klinikbettes. Ihr Blick fand die Bedienung, sie drückte auf die oberste Taste, und summend kippte das Kopfteil Zentimeter für Zentimeter nach oben.
Als das Kopfteil genügend angewinkelt war, ließ sie die Taste los und spähte über die Bettschrankkante.
Der Wecker zeigte 23:10 Uhr.
Annika kämpfte gegen ihre Benommenheit an. Wenn die OP am Vormittag stattgefunden hatte, dann … waren seither mindestens zwölf Stunden vergangen!
Fassungslos drehte sie den Kopf, bis die Zimmerdecke ihr Gesichtsfeld ausfüllte. Im Gegensatz zu den hellgrünen Wänden war die Decke blendend weiß getüncht. Auch die beiden Lampen mit den Leuchtstoffröhren strahlten grellweiß.
Ein halber Tag für das Erwachen nach einer kleinen Operation mit leichter Narkose …
Annikas Blick wanderte nach unten.
Die Bettdecke war zurückgeschlagen, der weiße Bezug mit hellroten Blutspritzern besät. Das OP-Hemd war bis zu Annikas Brüsten hochgeschoben und entblößte ihren Bauch.
Die Bauchdecke hob und senkte
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