Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17
sich unter ihren Atemzügen. Schlieren und Rinnsale getrockneten Blutes überzogen die fahle, gespannte Haut. Der Bauch war gezeichnet von einer Schraffur zahlloser langer, wulstiger Schnittwunden, die wie ein Zufallsmuster aus Mikadostäbchen wirkte. Die chirurgischen Klammern, von denen die Schnitte zugehalten wurden, verliehen ihnen das Aussehen zugezogener Reißverschlüsse.
Annikas entsetzter Blick begann umherzuschweifen, als suchte sie nach Beistand oder einer Erklärung für ihre Lage. Sie sah, dass die Scheibe der Wandvitrine eingeschlagen war. Die meisten der alten chirurgischen Instrumente fehlten in den Halterungen. Einige lagen auf dem Boden der Vitrine. Etliche, bemerkte Annika jetzt, waren bei ihr im Bett verstreut. Sie erkannte ein Skalpell und ein Messer mit gebogener, rostiger Klinge. Beide waren blutverschmiert.
In Annikas Kehle staute sich ein langer, gellender Schrei. Sie drehte die Augen zur Zimmertür, als hoffte sie von dort auf Rettung.
Dabei traf ihr Blick auf das benachbarte Bett.
Annikas Mitpatientin war nicht länger unter der Zudecke verborgen. Die Decke lag auf dem Boden. Die Bettinsassin war klein und zerbrechlich und trug ein dünnes Nachthemd. Das blasse Greisengesicht wirkte wie eine Eierschale in einem Nest dichter Haare. Die stumpfe Rabenschwärze des Haars mutete widernatürlich an und konnte nur künstlich sein. Der eingefallene Mund glich einer Narbe, die mit Falten vernäht war.
Sie lag reglos da, die flache Brust hob und senkte sich regelmäßig. Die Augen waren geschlossen.
Aber selbst wenn die Frau wach gewesen wäre, hätte sie still gelegen, denn Beine, Rumpf und Arme waren mit breiten, straff festgezogenen Fixiergurten ans Bettgestell gefesselt.
*
Kai war schon seit geraumer Zeit keinem Menschen mehr begegnet. Weder Ärzte noch Pfleger schienen sich nachts in diesen Teil des Klinikums zu verirren und erst recht kein Patient.
Auf Ebene 3 sahen alle Sitzwände und Toiletten gleich aus. Das wusste er nun. Er hatte etliche Toiletten betreten, aber das Buch besaß er noch immer nicht. Er war erschöpfter als zuvor, dafür ließ die Benommenheit langsam nach. Er fürchtete, dass die Dosis Was-auch-immer, die der glatzköpfige Doktor ihm gespritzt hatte, irgendwann ihre Wirkung verlor. Dann würde seine Phobie zum Vergeltungsangriff blasen.
Er konnte nur hoffen, dass er wenigstens einen Ausgang aus dem Gebäude fand, der um die Nachtstunde noch geöffnet war.
Neben der Wand des Korridors, den er gerade durchquerte, reihten sich frisch bezogene und mit transparenten Planen abgedeckte Krankenhausbetten wie ein langer Zug offener Güterwaggons aneinander. Nach den Betten kam eine Reihe verhängter Bettschränke.
Der Korridor mündete in einen breiteren Quergang. Kai betrat ihn und blickte zuerst nach rechts. Er sah ein Toilettenschild, aber keine Schalensitze. Dort brauchte er gar nicht erst nach dem Buch zu suchen.
Er drehte sich um und schaute in die andere Richtung.
Was er dort sah, war nur schwer zu glauben.
*
Annika wollte ihr Entsetzen hinausschreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Da sickerte erneut die Fahrstuhlstimme aus dem Telefonhörer.
»Der Schwesternnotruf, Annika. Drück den Schwesternnotruf.«
Ohne erst über die Herkunft des Ratschlags nachzudenken, langte Annika nach dem roten Auslöser, dessen Kabel am Griff der Bettschrankschublade festgebunden war.
Nach einigen Minuten, die Annika zehnmal so lang vorkamen, ging die Zimmertür auf, und die Schwester trat an ihr Bett. Es war nicht Schwester Nanita.
»Guten Abend! Wir kennen uns noch nicht«, sagte die Frau zu Annika. »Ich bin Schwester Hertwiga. Die Nachtschwester.«
Schwester Hertwiga mochte etwa fünfzig Jahre zählen. Statt des modernen Unisex-Schlabberzeugs von Pflegerkleidung trug sie eine nostalgische Schwesterntracht, bestehend aus Haube, Kittel und gestärkter Schürze. Über der Brust war, einem Orden gleich, die Pulsuhr festgesteckt.
Schwester Hertwiga ließ den Blick prüfend über Annikas Bett und den Bettschrank schweifen. Dann hob sie skeptisch die Brauen und fragte: »Was gibt’s denn? Ist etwas nicht in Ordnung?«
Annika starrte die Frau ungläubig an.
»Ach so, ich verstehe«, lächelte Schwester Hertwiga mit einem Blick auf das blutbesudelte Bettzeug. Ihr Gebiss war so weiß und ebenmäßig, dass man es für künstlich gehalten hätte, wäre nicht die breite Lücke zwischen den Schneidezähnen gewesen.
Als würden damit alle Fragen beantwortet, erklärte sie:
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