Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17
unhörbare Worte.
»Annika!«, erklang eine Stimme direkt neben Annikas Ohr. Annika erkannte die Fahrstuhlstimme, die aus dem Telefonhörer drang.
»Annika, willst du mithören, was sie sprechen? Dann drücke die ›1‹ … willst du mithören, dann drücke die ›1‹.«
Annika ließ das Kopfende des Bettes hochfahren, bis sie die Telefontastatur erreichen konnte. Mühsam reckte sie die Hand und betätigte die angegebene Wähltaste.
»… habe Annikas Buch gefunden«, ertönte augenblicklich Kais Stimme aus der Hörmuschel. »Daher weiß ich ganz bestimmt, dass sie irgendwo hier gewesen ist. Mein Gefühl sagt mir, sie befindet sich noch immer hier im Krankenhaus. Aber niemand gibt zu, dass sie da ist, oder sagt mir, wo sie ist.«
»Und die Patientenaufnahme war heute?«, fragte der Arzt. »Am Tag vor Allerseelen?«
»Ja, zufällig auch noch an Halloween. Dabei hatte Annika sich so sehr auf die Monster-Party gefreut!«
»Und die OP sollte angeblich morgen sein? Samstags?«
Kai bestätigte es.
»Hatte Ihre Freundin schon früher etwas mit dem Klinikum zu tun?«, forschte der Weißkittel weiter.
Kai furchte die Stirn. Schließlich antwortete er: »Ich glaube, sie hat mal was davon gesagt, dass ihr Vater im Klinikum gestorben ist … Aber hören Sie, ich muss jetzt los.« Er streckte die Hand nach dem Handy aus. »Da ich Annika nicht finden kann und niemand in der Lage ist, mir bei der Suche zu helfen, werde ich die Polizei benachrichtigen. Ich habe schon viel zu viel Zeit mit meiner sinnlosen Suche vergeudet.«
»Die Polizei?« Der Arzt wirkte alarmiert.
»Was bleibt mir denn übrig?«
Der Arzt rieb sich die Nase. Schließlich stieß er entschlossen die Hände in die Kitteltaschen und sagte: »Kommen Sie mit mir. Dann erfahren Sie mehr, als die Polizei jemals herausfinden könnte.«
*
Neue Tränen überfluteten Annikas Gesicht und sammelten sich an den Rändern der Knebelriemen. Kai hatte seine Phobie überwunden, um nach ihr zu suchen! Kai war HIER im Klinikum!
Im Telefonhörer knackte es, und er verstummte. Zugleich erlosch das TV-Bild … Kai war fort.
Stattdessen erschien auf dem Bildschirm der verwaiste Flur einer nächtlichen Krankenstation. Dass es die Station war, auf der sie selbst lag, erkannte Annika daran, dass Schwester Hertwiga durch den Stationsflur auf die Kamera zuwalzte.
Diesmal filmte die Kamera von oben. Dafür war die Einstellung nicht statisch, sondern folgte dem Weg der Nachtschwester.
Schwester Herwiga wurde immer größer, je näher sie kam. Als sie dicht unterhalb der Kamera vorbeiging, verschwamm die Schwesternhaube kurz vor der Linse. Dann war Hertwigas Kehrseite zu sehen, während sie sich über den Flur entfernte.
Entsetzt beobachtete Annika, wie sich der Kopf der Schwester über dem Kittelkragen mitsamt der gestärkten Haube auf der Halsachse nach hinten zu schrauben begann. Wenige Schritte später war ihr Gesicht wie bei einer Gelenkpuppe um anatomisch unmögliche 180 Grad auf den Rücken verdreht.
Schwester Hertwiga blickte Annika an, schenkte ihr ein Zahnlückengrinsen und winkte ihr über die Schulter hinweg zu.
*
Kai trat hinter dem Arzt in die Fahrstuhlkabine. Während die Tür zuglitt, streckte der Arzt die Hand zum Bedienfeld aus. Unterhalb der »H«-Taste für »Hauptebene« gab es die Tasten »U1«, »U2« und »U3« für die Kellerebenen 1 bis 3. Der Arzt drückte auf »U3«.
»›U‹ wie Unterwelt«, kommentierte er. »Und ›3‹ wie dritter Kreis der Hölle. Wohin die Wahrsager verbannt sind.« Er grinste: »Nein, war ein Witz. Die Wahrsager und Zauberer schmoren ja im achten Kreis der Hölle … Übrigens: Ich bin Doktor Leikart.«
Kai ergriff die dargebotene Rechte. »Kai Wehrmann.«
»Früher habe ich als Chirurg hier gearbeitet«, erklärte Dr. Leikart. »Jetzt arbeite ich nicht mehr als Chirurg.«
Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Dr. Leikart war jünger, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte, erkannte Kai. Trotz der Brille, der gelichteten Stirn und erster Anzeichen eines Schmerbauchs war er wohl nicht viel älter als Kai selbst, vielleicht knapp jenseits der dreißig.
»Ebene U3«, verkündete die Fahrstuhlstimme. Dann stand der Aufzug still.
Die Unterwelt des Klinikums erinnerte Kai an die Eingeweide der »Nostromo«, doch ohne die klaustrophobische Beengung des Alien -Raumschiffs. An den Betonwänden verliefen Bündel dicker Rohrleitungen, deren Funktion Kai nicht zu ergründen vermochte. Statt Stufen gab es Rampen.
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