Nähte im Fleisch - Horror Factory ; 17
hereinzuhumpeln.
Doch die Lifttür sträubte sich. Sie blieb nicht einladend geöffnet, sondern begann zuzugleiten. Annika bearbeitete die Taste, als würde sie hektisch Geh auf! – Geh auf! – Geh auf! an die Lifttür morsen.
Nur noch ein Spalt trennte die beiden Türhälften voneinander. Erst dann stoppten sie abrupt. Doch fingen sie an zu ruckeln und zu rumpeln, als stemmten sie sich noch immer hartnäckig gegen den Öffnungsbefehl.
Annika schwenkte das Bein vor und unterbrach die Lichtschranke mit dem Fuß. Ein knirschendes Geräusch ertönte, und die Türen teilten sich widerstrebend. Das Mädchen mit dem Gipsbein lächelte Annika dankbar an und schwang sich auf den Krücken über die Kabinenschwelle.
Im selben Moment schnappten die Türhälften zu. Mit einem metallischen Klong klemmten sie das Gipsbein ein, als wäre es in ein Fangeisen getappt.
Annika versetzte der Taste mit dem »Tür auf«-Symbol einen Fausthieb. Die beiden Türhälften zuckten kurz zurück, sodass der Gips freikam und das Mädchen rücklings auf den Boden der Krankenhaushalle fiel.
Dann knallte die Lifttür zu, und augenblicklich begann die Fahrt nach oben. Erschreckt hoffte Annika, dass das Mädchen sich bei dem Sturz nichts getan hatte. Fast schien es, als hätte der Aufzug eifersüchtig darüber gewacht, mit Annika allein zu sein.
Sie blickte auf die Etagenanzeige. Es gab zehn Stockwerke. Eben erlosch das »H« für »Hauptebene«, und die »1« leuchtete rot auf.
»Ebene 1«, verkündete eine körperlose Stimme. Die Stimme klang weiblich, neutral und künstlich, wie vom Computer erzeugt. Dennoch hatte Annika den irrationalen Eindruck, einen Unterton abkühlender Wut herauszuhören.
Annika blickte auf das Bedienfeld des Lifts, suchte die Wahltaste für die dritte Etage. Sie las: »Ebene 3 (Stationen 3.01-3.33)«. Es gab keine Station 3.34. Hatte sie sich verhört?
»Ebene 2«, verkündete die Stimme.
Annika drückte auf »3«. Sie machte sich zum Aussteigen bereit.
»Ebene 3«, tönte die Stimme.
Aber der Aufzug hielt nicht an. Die »3« auf der Etagenanzeige erlosch, und der Lift fuhr weiter nach oben.
Verwundert beschloss Annika, dann eben eine Etage höher auszusteigen und die gewünschte Ebene über das Treppenhaus zu erreichen.
Sie drückte die »4«.
Der Aufzug hielt.
Sie hob den Blick zur Etagenanzeige, aber die Nummern waren dunkel. Offenbar steckte der Aufzug zwischen zwei Etagen fest.
Gleich darauf geschah zweierlei. Zuerst glitten die Lifttüren doch noch auseinander. Aber sie öffneten sich nicht in den Fahrstuhlschacht, sondern auf grauen Linoleumboden und auf eine hellgrün getünchte Wand.
Dann klingelte Annikas Smartphone.
Sie reagierte mechanisch, indem sie das Smartphone aus der Jackentasche zog und gleichzeitig aus der Liftkabine trat. Auf dem Display stand der Name des Anrufers.
Sie drückte die Sprechtaste. »Hallo, Kai!«
Im selben Augenblick brach die Verbindung ab. Der Funkempfang war weg.
Hinter Annika glitt die Lifttür zu.
*
Kai stand daheim im Badezimmer und betrachtete sich selbst im Spiegel. Er sah nicht gut aus. Die Haut war bleigrau. Die Augenhöhlen waren schwarz, die Augen rot unterlaufen. Mund, Wangen und Kinn waren blutverschmiert. Das Nasenbein zeichnete sich in einem Klumpen rohen Fleischs ab. Schaurige Wunden verunzierten seinen Hals. Oberhalb des Brustbeins ragte die zerfetzte Luftröhre hervor. In einer Geheimratsecke trat das Gehirn aus. Er sah an sich hinab. Seine Kleidung war schmutzig und zerrissen.
Jetzt musste er nur noch den abgetrennten Unterarm einstecken, der aus seiner Jackentasche hervorschauen sollte, dann war er ausgehfertig.
Sonderlich originell war seine Zombie-Verkleidung nicht, das wusste er natürlich. Aber neben Annikas sagenhaftem »Sexy Alien«-Kostüm wäre jeder Versuch, mit der eigenen Maskerade zu punkten, nur lächerlich ausgefallen. »Playmate vom Pluto« hatte er sie bei der Anprobe ihres Kostüms genannt. Sie hatte gelacht. Immerhin hätten sie als Paar eine ausgefallene Variante von »The Beauty and the Beast« abgegeben.
Und nun war Annika im Krankenhaus.
Er dachte an den Foto-Kuss, den sie ihm aufs Handy gefunkt hatte. Sobald er im Büro eingetroffen war, hatte er sie angerufen. Sie hatte den Anruf entgegengenommen, aber im selben Augenblick war die Verbindung abgerissen. Bei jedem weiteren Versuch, sie zu erreichen, war er immer nur mit ihrer Mailbox verbunden worden. Er hatte sogar in ihrer gemeinsamen Wohnung angerufen, falls sie
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