Naokos Laecheln
nur verschwunden? Dabei kann ich mich ja kaum noch an Naokos Gesicht erinnern. Geblieben ist mir nur dieses menschenleere Bild.
Sicher, wenn ich eine Weile nachdenke, fällt mir wieder ein, wie sie aussah. Sie hatte kleine kalte Hände, schönes Haar, das sich völlig glatt anfühlte, und unter dem einen ihrer weichen, runden Ohrläppchen ein winziges Muttermal. Ich erinnere mich an den eleganten Kamelhaarmantel, den sie im Winter trug, an ihre Art, einem in die Augen zu sehen, wenn sie eine Frage stellte, an das leichte Beben, das hin und wieder in ihrer Stimme lag (als spräche sie auf einer stürmischen Bergspitze) – wenn ich diese Bilder nach und nach zusammenfüge, tauchen auch ihre Gesichtszüge wieder vor mir auf. Zunächst ihr Profil, was vielleicht daran liegt, daß Naoko und ich immer nebeneinander gingen. Sie wendet sich mir zu, lächelt, legt den Kopf ein wenig zur Seite und beginnt zu sprechen, wobei sie mir forschend in die Augen sieht. Ganz so, als beobachte sie das Tummeln winziger Fischlein auf dem Grund einer klaren Quelle.
Allerdings dauert es immer eine Weile, bis Naokos Gesicht aus den Tiefen meines Gedächtnisses auftaucht. Von Jahr zu Jahr hat es immer ein bißchen länger gedauert. Traurig, aber wahr. Zuerst brauchte ich fünf Sekunden, um die Erinnerung heraufzubeschwören, dann zehn, dann dreißig, bis eine Minute daraus geworden war. Ähnlich wie Schatten in der Dämmerung allmählich immer länger werden, bis die Dunkelheit sie ganz verschluckt, entfernte sich mein Gedächtnis tatsächlich immer weiter von Naoko, ebenso wie es sich immer weiter von meinem damaligen Ich zu entfernen schien. Allein die Landschaft, die Wiese im Oktober, spulte sich wie die Schlüsselsequenz in einem Film immer wieder vor meinem inneren Auge ab, drängte sich stets von neuem in mein Bewußtsein. Und jedesmal, wenn diese Landschaft in meinem Kopf erschien, versetzte sie mir einen Stoß. He, wach auf, ich bin noch da, wach auf, wach auf und überleg dir den Grund dafür, überleg dir, warum ich noch da bin. Es waren keine schmerzhaften Stöße. Sie taten nicht im geringsten weh. Statt dessen erzeugten sie einen gewissen hohlen Ton, der jedoch eines Tages ebenfalls völlig verschwinden würde. Wie alles andere schließlich auch verschwinden wird. Doch als ich in der Lufthansa-Maschine auf dem Hamburger Flughafen saß, bedrängten mich die Stöße anhaltender und stärker als sonst. Deswegen beschloß ich, ein Buch zu schreiben, dieses Buch. Um aufzuwachen und zu begreifen, denn ich bin nun einmal jemand, der die Dinge aufschreiben muß, um sie zu begreifen.
Worüber hatten wir damals gesprochen?
Ach ja, es ging um einen Brunnen in den Feldern. Ich weiß nicht einmal, ob es einen solchen Brunnen überhaupt gegeben hat. Oder ob er vielleicht ein Symbol oder ein Bild war, das nur in Naokos Innerem existierte – genau wie vieles andere, das sie sich in jenen düsteren Tagen zurechtspann. Doch nachdem sie mir einmal von dem Brunnen erzählt hatte, konnte ich mir die Wiese nicht mehr ohne ihn vorstellen. Die Gestalt jenes Brunnens, den ich nie mit eigenen Augen gesehen habe, ist in meinem Kopf so selbstverständlich mit dem Bild der Landschaft verschmolzen, daß ich ihn bis ins Detail beschreiben kann. Der Brunnen liegt genau an der Grenze, wo die Wiese endet und der Wald anfängt. Ein dunkles Loch in der Erde von etwa einem Meter Durchmesser, tückisch verborgen im Gras. Kein Zaun, kein erhöhter Rand aus Steinen. Nur dieses gähnende Loch, wie eine Mundöffnung. Die rundherum liegenden Steine sind von Wind und Wetter zu einem kränklichen, milchigen Weiß ausgebleicht, geborsten und voller Risse. Zwischen den Spalten huschen Eidechsen umher. Auch wenn man sich so weit wie möglich über das Loch beugt und hineinspäht, kann man nichts erkennen. Das einzige, dessen ich mir sicher bin, ist seine beängstigende, unermeßliche Tiefe. Pechschwarze Finsternis staut sich in dem Loch – als hätte sich alle Dunkelheit der Welt in ihm zu undurchdringlicher Schwärze verdichtet.
»Er ist unheimlich – unheimlich tief.« Naoko wählte ihre Worte mit Bedacht. Mitunter verlangsamte sie auf diese Weise ihre Rede, während sie nach einem bestimmten Wort suchte. »Unheimlich tief. Doch niemand weiß, wo er liegt. Nur daß es hier in der Gegend sein muß.«
Die Hände in den Taschen ihrer teuren Tweedjacke vergraben, sah sie mir wie zur Bestätigung ins Gesicht und lächelte.
»Aber ist das denn nicht zu gefährlich?«
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