Naokos Laecheln
nur eine einzige Zeile zustande. Dabei wußte ich genau, wenn ich nur eine Zeile schaffte, würde sich die ganze Geschichte wie von selbst schreiben, doch diese eine Zeile brachte ich partout nicht zustande. Alles war noch zu deutlich, so daß ich nie wußte, wo ich beginnen sollte – wie eine allzu detaillierte Landkarte meist eher den Blick verstellt, als eine Hilfe zu sein. Doch nun kann ich es, denn mir ist endlich klar geworden, daß sich unvollkommene Erinnerungen und unvollkommene Gedanken nur in einem ebenso unvollkommenen Gefäß aus geschriebenen Worten auffangen lassen. Je stärker die Erinnerung an Naoko in mir verblaßt, desto tiefer wird mein Verständnis für sie. Inzwischen habe ich begriffen, warum sie mich bat, sie nicht zu vergessen. Natürlich wußte Naoko Bescheid. Sie wußte genau, daß meine Erinnerung an sie verblassen würde, und nahm mir das Versprechen ab, sie nicht zu vergessen. Mich für immer an ihre Existenz zu erinnern.
Dieses Wissen erfüllt mich mit fast ebenso unerträglicher Trauer wie das Wissen, daß Naoko mich nie geliebt hat.
2. Kapitel
Vor langer, langer Zeit – auch wenn es höchstens zwanzig Jahre her sein kann – lebte ich in einem Studentenwohnheim. Ich war achtzehn und hatte gerade mein Studium begonnen. Weil ich mich in Tōkyō nicht auskannte und zum ersten Mal allein leben würde, hatten meine besorgten Eltern dieses Wohnheim ausfindig gemacht. Nicht nur erleichterten dort verschiedene praktische Einrichtungen einem unbedarften Achtzehnjährigen das Leben, sondern man wurde auch verpflegt. Bei dieser Entscheidung hatten auch die Kosten eine Rolle gespielt, denn natürlich war ein Wohnheimplatz billiger als ein Privatzimmer. Bettzeug und eine Lampe genügten, Mobiliar brauchte nicht angeschafft zu werden. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich ein eigenes Apartment vorgezogen und es mir allein gemütlich gemacht, aber in Anbetracht der Einschreibe- und Studiengebühren für die Privatuni, auf die ich gehen würde, sowie meines monatlichen Unterhalts, konnte ich mich schlecht beschweren. Und im Grunde war es mir egal, wo ich wohnte.
Das Wohnheim lag, von einer hohen Betonmauer umgeben, auf einem Hügel mit Blick auf die Stadt. Gleich hinter dem Tor zu dem weitläufigen Areal stand ein riesiger, hoch in den Himmel ragender Keyaki-Baum, angeblich mindestens hundertfünfzig Jahre alt. Sein grünes Blätterwerk war so dicht, daß man, wenn man zu seinen Füßen stand, den Himmel nicht mehr sah.
Ein betonierter Weg wand sich um den riesigen Baum herum und verlief dann in einer langen Geraden durch den Hof, auf dem zwei einander gegenüberliegende zweistöckige Betongebäude mit zahlreichen Fenstern standen. Sie wirkten wie ein ehemaliges Gefängnis, das man in Apartments umgewandelt hatte. Andererseits hätten es auch Apartments sein können, die man zum Gefängnis umgebaut hatte. Die Gebäude hatten jedoch nichts Schmuddliges, sie wirkten nicht einmal düster. Aus den geöffneten Fenstern ertönte unablässig Radiomusik. Die Vorhänge waren ebenso wie die Räume cremefarben, damit die Sonne sie nicht ausbleichen konnte.
Dem Weg folgend, gelangte man zum einstöckigen Hauptgebäude, in dessen Erdgeschoß sich die Kantine und das Gemeinschaftsbad befanden. Im ersten Stock waren die Aula, Gemeinschaftsräume und sogar Gästezimmer, von denen ich mir nie so recht vorstellen konnte, wem und wozu sie dienten. Daran angrenzend stand noch ein drittes, ebenfalls zweistöckiges Wohnheimgebäude. Auf den ausgedehnten Rasenflächen drehten sich Rasensprenger, deren Sprühregen im Sonnenschein funkelte. Hinter dem Hauptgebäude lagen ein Baseball- und ein Fußballplatz sowie sechs Tennisplätze. Es fehlte also an nichts.
Das einzige Problem war der etwas verdächtige politische Ruf, der dem Wohnheim anhaftete. Es wurde von irgendeiner undurchsichtigen Organisation um einen ultrarechten Typ geleitet. Die Politik der Leitung war – zumindest in meinen Augen – höchst sonderbar. Man wußte gleich einigermaßen Bescheid, wenn man das Faltblatt für neue Studenten und die Hausordnung las. Die Gründungsdevise des Wohnheims bestand in der »Anwendung erzieherischer Grundsätze zum Zwecke der Förderung vielversprechender Talente zum höchsten Wohl und Nutzen der Nation«, und angeblich hatten zahlreiche Größen aus der Finanzwelt, die gleichen Sinnes waren, private Mittel in dieses Projekt investiert. So lautete zumindest die offizielle Version, doch was sich hinter den Kulissen
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