Narziss Und Goldmund
Felde nieder, schloß die Augen und gab sich verloren, wünschte nichts als einzuschlafen und im Schnee zu sterben. Aber immer wieder trieb es ihn empor, verzweifelt und gierig lief er um sein Leben, und mitten in der bittersten Not erquickte und berauschte ihn die unsinnige Kraft und Wildheit des Nichtsterbenwollens, die ungeheure Stärke des nackten Lebenstriebes. Vom beschneiten Wacholderbusch las er mit blaugefrorenen Händen die kleinen vertrockneten Beeren und kaute das spröde bittere Zeug, mit Tannennadeln vermischt, es schmeckte aufreizend scharf, er fraß Hände voll Schnee gegen den Durst.
Atemlos, in die erstarrten Hände hauchend, saß er auf einem Hügel und hielt kurze Rast, gierig spähte er nach allen Seiten, nichts als Heide und Wald war zu sehen, nirgends eine Spur von Menschen. Über ihm flogen ein paar Krä-
hen, böse blickte er ihnen nach. Nein, sie sollten ihn nicht zu fressen kriegen, nicht, solange noch ein Rest von Kraft in seinen Beinen, ein Funke von Wärme in seinem Blute war. Er stand auf und nahm den unerbittlichen Wettlauf mit dem Tode wieder auf. Er lief und lief, und im Fieber der Erschöpfung und letzten Anstrengung nahmen merkwürdige Gedanken von ihm Besitz, und er führte tolle Gespräche vor sich hin, bald unhörbar, bald laut. Er sprach mit Viktor, mit dem Erstochenen, barsch und höhnisch sprach er mit ihm: »Na, schlauer Bruder, wie geht’s?
Scheint dir der Mond durch die Därme, Kerl, rupfen die Füchse dir an den Ohren? Einen Wolf willst du umgebracht 146
haben? Hast du ihn in die Kehle gebissen oder ihm den Schwanz ausgerissen, he? Meinen Dukaten hast du mir stehlen wollen, alter Schnappsack! Aber gelt, das kleine Goldmundchen hat dich überrascht, gelt Alter, es hat dich an den Rippen gekitzelt! Und dabei hast du noch alle Säcke voller Brot und Wurst und Käse gehabt, du Schwein, du Freßsack!« Dergleichen Scherzreden hustete und bellte er vor sich hin, er beschimpfte den Toten, er triumphierte über ihn, er lachte ihn dafür aus, daß er sich habe kaputt-machen lassen, der Tölpel, der dumme Aufschneider!
Dann aber hatten seine Gedanken und Reden es nicht mehr mit dem armen langen Viktor zu tun. Er sah jetzt Julie vor sich, die schöne kleine Julie, so wie sie ihn in jener Nacht verlassen hatte, er rief ihr unzählige Koseworte zu, mit irren schamlosen Zärtlichkeiten suchte er sie zu verführen, daß sie zu ihm komme, daß sie ihr Hemdchen fallen lasse, daß sie mit ihm in den Himmel fahre, eine Stunde vor dem Tode noch, ein Augenblickchen vor dem elenden Verrecken. Flehend und herausfordernd sprach er mit ihren hohen kleinen Brüsten, mit ihren Beinen, mit dem blonden krausen Haar unter ihrer Achsel.
Und wieder, während er mit steifen stolpernden Beinen durchs beschneite dürre Heidekraut trabte, trunken vor Weh, triumphierend vor flackernder Lebensgier, begann er zu flüstern, und jetzt war es Narziß, mit dem er sprach, dem er seine neuen Einfälle, Weisheiten und Scherze mitteilte.
»Hast du Angst, Narziß«, redete er ihn an, »graut es dir, hast du was gemerkt? Ja, Verehrtester, die Welt ist voll von Tod, voll von Tod, auf jedem Zaun sitzt er, hinter jedem Baum steht er, und es hilft euch nichts, daß ihr Mauern baut, und Schlafsäle, und Kapellen und Kirchen, er guckt durchs Fenster, er lacht, er kennt jeden von euch so genau, mitten in der Nacht hört ihr ihn vor euren Fenstern lachen und eure Namen sagen. Singt nur eure Psalmen und
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brennet hübsch Kerzen am Altar, und betet eure Vespern und Matutinen, und sammelt Kräuter im Laboratorium, und sammelt Bücher in der Bibliothek! Fastest du, Freund?
Entziehst dir den Schlaf? Er wird dir schon helfen, der Freund Hein, er wird dir alles entziehen, bis auf die Knochen Lauf, Teuerster, lauf geschwind, im Felde da geht der Heirassasa, lauf und halte immer hübsch die Knochen zusammen, sie wollen auseinander, sie werden nicht bei uns bleiben. Ach unsere armen Knochen, ach unser armer Schlund und Magen, ach unser armes bißchen Hirn unterm Schädel! Es will alles fort, es will alles zum Teufel, auf dem Baum sitzen die Krähen, die schwarzen Pfaffen.«
Längst wußte der Irrende nicht mehr, wohin er laufe, wo er sei, was er sage, ob er hege oder stehe. Er fiel über Gesträuch, er rannte gegen Bäume, er griff stürzend in Schnee und Dornen. Aber der Trieb in ihm war stark, immer wieder riß er ihn fort, immer wieder jagte er den blind Fliehenden weiter. Als er das letztemal zusammen-brach und
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