Narzissen und Chilipralinen - Roman
manipulieren. Die Liebe ist geduldig und freundlich und rechnet das Böse nicht zu.«
Ich sehe zu Tine hinüber, die blass und schmal dasteht, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Nein, jetzt sieht man ihr nichts an. Dieses Kind, das sie erst nicht wollte und das ihr nachher die Kraft gegeben hat, die Gefangenschaft durchzustehen und nicht zu kapitulieren. Ich behalte sie im Blick, denn irgendwie fühle ich mich immer noch für sie verantwortlich, nach diesen endlosen Tagen im Bunker.
Ich halte die Rose in der Hand und schaue auf den Sarg hinunter. Er hat Übergröße, weil Michael so ein langer Kerl war. Diese Rose zu werfen, zu sehen, wie sie unten aufschlägt ... es ist so unwirklich. Rosen segeln nicht lautlos wie Worte oder wie Schneeflocken. Sie fällt und schlägt auf und bleibt liegen, bei all den anderen Rosen.
Es ist vorbei, aber irgendwie wird es nie vorbei sein. Wird es nie wieder sein wie vorher.
Ein fremdes Mädchen mit Brille trocknet sich die Tränen ab. Sie heißt Ariane und war Michaels Freundin.
Bastians Jungs stehen verloren ein paar Meter entfernt. Alf hat sich das Bein gebrochen bei seinem Sturz in eins der Löcher, und sitzt im Rollstuhl. Jackson hat eine Gehirnerschütterung, weil Finn ihn niedergeschlagen hat. Philipp hat eine Schulterwunde davongetragen und viel Blut verloren. Trotzdem sind beide da.
Sie sind nicht die Einzigen, die Klinik-Urlaub haben.
Tine tritt neben mich. »Ich muss gleich zurück ins Krankenhaus. Bis nachher.« Sie umarmt mich und lässt sich dann von Bastian zum Auto bringen. Ihre Eltern gehen hinter ihr, dunkel und schweigend, während ihr Bruder Jeremy Tabita eine Kusshand zuwirft und stolz davonmarschiert. Ich habe noch nie so viele frohe und erleichterte Gesichter auf einer Beerdigung gesehen. So viel Tränen und so viel Lachen. Von allem etwas, als würden wir an diesem Tag die Trauer und die Freude zusammenschmieden zu einer Legierung, die sich nicht mehr auseinanderschmelzen lässt.
Tine ist nicht verletzt, aber sie muss dringend aufgepäppelt werden. Deshalb bleibt sie noch eine Weile zur Beobachtung im Krankenhaus. Nur zu Michaels Beerdigung hat sie die Erlaubnis erhalten, herzukommen.
»Ich hasse Krankenhäuser«, sage ich. »Immer endet es damit, dass ich im Krankenhaus lande. Dabei fehlt mir nichts.«
Nichts – nun ja. Die Prellung am Kopf, wo Finn mich mit dem Paddel erwischt hat, ist längst verheilt. Ich habe Kratzer und Blutergüsse von meinen vergeblichen Kämpfen gegen die Eisentür. Als Finn mich gegen die Wand geworfen hat, habe ich mir irgendwie die Hand gebrochen. Ich war so mit Adrenalin voll, dass ich das gar nicht gemerkt habe. Außerdem scheinen alle der Meinung zu sein, dass ich geschont werden muss. Dabei will ich einfach bloß zu Hause sein und dass alles ist wie immer.
»Besuchst du mich?«, fragt Alf grinsend, der die Beerdigung nutzt, um schamlos mit allen hübschen Hopi-Mädchen zu flirten.
»Mal sehen«, sage ich freundlich. »Bastian kommt dich doch schon besuchen. Wenn er nicht gerade an Tines Bett hockt.«
Die zwei sind unzertrennlich, was mich nicht so überrascht wie einige andere hier. Schließlich weiß ich mittlerweile eine ganze Menge über Tines Gefühle und dass sie eigentlich schon in Bastian verliebt war, als Finn angefangen hat, ihr einzureden, dass es Gottes Wille sei, dass sie ihn lieben müsste.
Tom greift nach meiner gesunden linken Hand. Er sieht umwerfend gut aus, seine blauen Augen leuchten voller Wärme. »Du siehst fantastisch aus, Messie. Wie immer. Nach so einem Erlebnis ... dich kriegt nichts klein, was? Ich bewundere dich dafür, wie stark du bist.«
Er weiß es nicht. Er weiß nichts davon, was ich durchgemacht habe. Ich schaue zu Daniel hin, der merkwürdig starr ein paar Meter entfernt steht. Daniel war unten im Bunker. Er hat es gesehen und verstanden. Ich habe sein Lied gesungen – ich weiß, dass er es versteht. Was es bedeutet, im Dunkeln zu sein. Und nicht zu wissen, ob man rechtzeitig gerettet wird. Er hat es erlebt, damals am Fluss. Und als Sarah im Krankenhaus war. Auch Tom hat Leid erlebt, als er seinen Vater verloren hat, und doch hat er keine Ahnung davon, was mir wichtig ist. Man muss nicht stark sein. Wenn die Nacht über einen hereinbricht, nützt Stärke überhaupt nichts. Nur das Vertrauen in einen, der stärker ist als die Nacht, der den Felsblock zur Seite rollen wird, damit es wieder hell werden kann.
Ich wünsche mir, an Daniels Seite zu stehen, doch heute ist es etwas
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