Nashira
Dynaer. »Im Morgengrauen müssen wir wieder frisch sein. Wie ihr seht, ist unsere Hütte sehr klein, deswegen dachte ich, dass die junge Herrin das Bett mit mir teilt, und du, Saiph, kannst auf einer Decke am Boden schlafen.«
»Ich heiße Talitha«, sagte diese mit sanfter Stimme, »ihr könnt mich ruhig beim Namen nennen.«
Dynaer schien ein wenig verlegen. »Wie du willst, Talitha«, murmelte sie und ging davon, um Saiph das Lager zu richten.
Das Mädchen erklärte, noch ein wenig aufbleiben zu wollen, um ihre vom Eis aufgerissenen Hände zu behandeln.
Sie saß am Tisch und leerte ihren Geist, während sie in das tanzende Flämmchen der Kerze starrte, bis es schließlich erlosch. Der Raum wurde nur noch vom Licht des Luftkristalls erhellt, der durch die Berührung ihrer Finger zu strahlen begonnen hatte. Es war nicht leicht, sich selbst zu behandeln, aber allein schon, den Stein zu berühren, war eine Wohltat für sie. Doch sie schaffte es nicht zu vollkommener Konzentration, weil die Worte, die sie in Lebithas Brief gelesen hatte, sie immer wieder ablenkten.
Euer Enkelsohn und meine Schwester sind dabei, sich kennenzulernen, und ich zweifle nicht daran, dass sie bald Freunde sein werden. Ihr könnt unbesorgt sein, bei ihr ist Saiph in guten Händen. Talitha mag ein wenig hochnäsig und verwöhnt wirken, aber sie besitzt die Fähigkeit, sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen zu lassen, und sie hat ein so großes Herz, wie man es ihr vielleicht gar nicht zutrauen würde. Es war meine Idee, die beiden zusammenzubringen, denn ich spüre, dass sie einander guttun und sich nur gemeinsam ihren Platz in dieser Welt erobern können, die so schön ist, aber auch so grausam.
Langsam ließ Talitha die Stirn auf das Pergamentblatt sinken und schloss, so fest sie konnte, die Augen. Und dabei war ihr, als spüre sie einen Monat lang die Hand ihrer Schwester, die sanft ihren Kopf berührte.
38
D ie ersten Tagen konzentrierte sich Talitha ganz auf eine mögliche Flucht und zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie entkommen und sich zuvor noch Verbas Schwert zurückholen konnten. Doch je mehr Zeit verging, umso mehr verblasste dieser Gedanke, und immer häufiger sagte sie sich, dass sie es satthatte, ständig auf der Flucht zu sein, dass sie es leid war, der Spur des Ketzers durch ganz Talaria zu folgen. Sie verspürte das Bedürfnis, in der Menge unterzutauchen, sich eine Pause zu gönnen und Abstand von ihrer Mission zu gewinnen. Aber die Wahrheit sah anders aus: Der brutale Rhythmus der Fabrikarbeit verschluckte sie mehr und mehr. Natürlich wusste sie, dass sie nicht dorthin gehörte, fand aber immer weniger die Kraft, sich diesem Sog zu widersetzen. Abends war sie so erschöpft, dass sie kaum noch ein Wort mit Saiph wechseln konnte, und morgens musste sie so früh raus, dass sie zu verschlafen war, um sich irgendeinen Fluchtplan zu überlegen. Bald war die Arbeit das Einzige, was in ihrem Leben noch Platz hatte, war Anfang und Ende ihres ganzen Tagesablaufs, wie ein Ungeheuer, das sich von ihrem Fleisch und Blut ernährte. Wie die Eisblöcke nicht zu unterscheiden waren, die sie jeden Tag zusammenschnüren musste, oder auch das Schweigen immer gleich war, mit dem sie, tief über die Packbank gebeugt, ihre Arbeit erledigte, so glich eine Stunde der anderen.
Irgendwann war die Lust aufzubegehren ganz erloschen,
und alles kam ihr nun unausweichlich vor. Die Bestrafungen gehörten genauso zum Tagesablauf wie die Kälte, die Rückenschmerzen wie die Taubheit der Beine.
Auch als sie selbst bestraft wurde, senkte sie nur noch den Kopf und ließ es klaglos über sich ergehen. Dabei war ihr bloß ein Eisblock aus der Hand geglitten. Denn auch in den Handschuhen froren die Hände bei der Arbeit selbst schnell zu Eis, und die kleine Feuerschale konnte nicht viel gegen die tauben Finger ausrichten. Jedenfalls war ihr deswegen ein Block auf den Boden gefallen. Entgeistert sah sie zu, wie er auf dem Stein zerbarst, und erst das Schnalzen der Peitsche brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Der Sklaventreiber, ein Bursche von höchstens zwanzig Jahren, hatte sich vor ihr aufgebaut und schaute sie aus kalten Augen an.
»Bist du wahnsinnig? Weißt du, was der wert war?«
Starr vor Schreck stand Talitha da. Was, wenn jetzt herauskam, wer sie tatsächlich war. Wenn dem Kerl auffiel, dass ihre Gesichtsfarbe nicht echt war? Dass sie sich jeden Morgen neu tarnte?
Der Bursche packte sie an den Haaren und zwang sie auf die Knie,
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