Navy Seals Team 6
haben.
– Gunnery Sergeant Carlos Hathcock, Scharfschütze beim amerikanischen Marineinfanteriekorps
1.
Feindberührung
Wenn die US-Marine ihre Elite schickt, schickt sie die SEALs. Und wenn die SEALs ihre Elite schicken, schicken sie das SEAL Team Six. Das SEAL Team Six ist für die Marine das, was die Delta Force in der Army der Vereinigten Staaten ist. Seine Aufgaben sind die Bekämpfung von Terrorismus und Aufständen, gelegentlich auch zusammen mit der CIA. Hier wird nun zum ersten Mal die Geschichte eines Scharfschützen im SEAL Team Six erzählt. Meine Geschichte.
Scharfschützen bleiben lieber anonym. Obwohl wir lieber aktiv als passiv sind, entziehen sich manche Dinge unserer Kontrolle. Wir müssen uns auf unsere Stärken verlassen, um die Schwachstellen des Feindes auszunutzen. Trotzdem geriet ich während des Golfkriegs 1991 in Gefahr: Ich befand mich allein auf dem Hecküberhang eines Schiffs, dessen Crew für Saddam Hussein arbeitete. Ein anderes Mal lag ich – eigentlich ein Experte im Verstecken und Tarnen – in einem Land der Dritten Welt mitten auf einem Rollfeld, nackt und mit Schusswunden an beiden Beinen. Das rechte Bein war mir von einer AK-47 fast völlig weggeblasen worden. Manchmal müssen wir uns den Dingen stellen, denen wir eigentlich aus dem Weg gehen wollen.
Es war noch dunkel an jenem 18. September 1983. Casanova und ich krochen in Mogadischu/Somalia über eine Mauer und kletterten einen sechsstöckigen Turm hinauf. Obwohl es noch so früh war, waren die Menschen schon wach. Männer, Frauen und Kinder verrichteten ihre Notdurft auf der Straße. Es roch nach Feuern aus Tiermist und allen möglichen anderen Dingen. Darauf erwärmten die Somalier jedes Nahrungsmittel, das sie bekommen konnten. Der Kriegsherr Aidid senior wusste genau, wie mächtig ihn die Kontrolle über die Nahrungsmittelversorgung machte. Jedes Mal, wenn ich ein halb verhungertes Kind sah, gab ich Aidid die Schuld, denn mit seinem grausamen Machtspiel zerstörte er so viele Menschenleben.
Der Turm, auf dem wir uns befanden, stand in der Mitte des pakistanischen Lagers. Die Pakistaner verhielten sich sehr professionell und behandelten uns mit großem Respekt. Wenn es Zeit für einen Tee war, brachte der Junge, der sich um die Bewirtung kümmerte, auch uns immer eine Tasse des heißen Getränks. Mittlerweile schmeckte mir sogar die Ziegenmilch, die die Pakistaner in den Tee geben. Als Casanova und ich auf den oberen Rand des Turms krochen, drangen die Geräusche und Gerüche der Ziegenherde im Lager in meine Sinne ein. Wir blieben erst einmal liegen und beobachteten eine große Autowerkstatt, die kein Dach hatte. Die Werkstatt lag mitten in einer Stadt der Verzweiflung. Somalier schleppten sich erschöpft und niedergeschlagen voran. Ihre Gesichter waren von Hilflosigkeit und Hunger gezeichnet. Da wir uns noch in einem »besseren« Stadtviertel befanden, waren die mehrstöckigen Gebäude einigermaßen gut erhalten. Sie waren aus Beton und nicht aus Blech oder Holz wie die verfallenen Hütten, die sonst das Bild der Stadt und des Umlands bestimmten. Trotzdem roch es nach Fäkalien und Tod, gewürzt mit einer Prise Hoffnungslosigkeit. Hoffnungslosigkeit kann man tatsächlich riechen. Der Begriff »Entwicklungsland« ist völliger Unsinn, denn in Somalia entwickelten sich lediglich Hunger und Krieg. Meiner Meinung nach dient der Begriff Entwicklungsland nur dazu, das Gewissen der Menschen, die ihn erfunden haben, zu beruhigen, denn egal, wie man Hunger und Krieg auch bezeichnet: Sie sind mit das Schlimmste, das man sich vorstellen kann.
Ich berechnete genau, wie weit bestimmte Gebäude entfernt lagen. Ein Scharfschütze muss vor allem zwei Größen kennen: die Windabweichung und den Höhenrichtbereich. Da es beinahe windstill war und so mein Schuss nicht nach links oder rechts abgelenkt werden konnte, musste ich die Windabweichung hier nicht ausgleichen. Als Höhenrichtbereich bezeichnet man die Variable, die man für die Entfernung vom Ziel einsetzt. Da die meisten potenziellen Ziele zwischen 180 Metern (Autowerkstatt) und 590 Metern (Kreuzung hinter der Autowerkstatt) entfernt lagen, stellte ich mein Zielfernrohr auf 450 Meter ein. So konnte ich mein Gewehr je nach Entfernung höher oder tiefer halten. Hatte der Schusswechsel erst einmal begonnen, war es zu spät, um die Entfernung an meinem Zielfernrohr zu korrigieren.
Wir begannen um 0600 mit unserer Überwachung. Während wir auf das Signal unseres
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