Nebel ueber Oxford
Kapitel 1
Kate Ivory schloss die Haustür und ging in den wundervollen Frühherbstmorgen hinaus. Der Himmel wölbte sich dunkelblau über der Stadt, die warme Luft war nicht mehr so schwül wie im August. Kate erfreute sich an den Terracottatöpfen des Nachbarn, in denen die letzten dunkelroten Geranien ihre Pracht entfalteten. Sie blickte in den blauen Himmel hinauf. Ja, der vom Wetterbericht angekündigte Wetterwechsel würde sicher nicht mehr lange auf sich warten lassen.
In das ferne, vertraute Rauschen des Verkehrs mischte sich ein seltsames Murmeln.
Die Blumentöpfe vor Kates Haustür enthielten nur welke Blätter und schwarze Stängel, aus denen man nicht mehr auf die ursprüngliche Pflanze schließen konnte. Weil sie inzwischen auch eine andere Grünpflanze in ihrem Arbeitszimmer zu Tode gepflegt hatte, war sie nun auf dem Weg in die Stadt, um eine Grünlilie zu erwerben, eine Pflanze, die – hoffentlich – widerstandsfähig genug war, Kates Pflege und Aufmerksamkeit zu überleben. Beim Anblick der nachbarlichen Geranien nahm sie sich vor, außerdem noch ein paar Blumenzwiebeln zu kaufen. Wie wäre es mit buschig blühenden, rosa und grünen Zwergtulpen, weißen Narzissen und vielleicht ein wenig schlankem Zierlauch?
Kate ging die Straße entlang, überquerte die Walton Street und bog in die Little Clarendon Street ab, wo die Schaufenster der Boutiquen ihren raschen Schritt in Richtung der St. Giles Street ein wenig bremsten.
Während sie noch darüber nachdachte, ob ein eng geschnittenes Shirt mit halsfernem Rollkragen zu ihrem neuen, anthrazitfarbenen Blazer passen könnte, fiel ihr auf, dass das undeutliche Murmeln stärker geworden war. Es kam aus Richtung der St. Giles und bestand jetzt aus verschiedenen, einzeln erkennbaren Geräuschen: dem Schlurfen von vielen Hundert Füßen, skandierenden Stimmen und Gesängen. Am Ende der Little Clarendon Street stand eine vierschrötige Gestalt in einer leuchtend gelben Jacke mitten auf der Fahrbahn und wandte Kate den Rücken zu.
Aha, wieder einmal ein Demonstrationszug, der sich durch Oxford schlängelte.
Noch konnte Kate die Demonstranten nicht sehen, doch ihre Stimmen wurden lauter. Kate ging auf den teilnahmslos wartenden Polizisten zu.
»Was ist da los?«, erkundigte sie sich.
»Die St. Giles ist wegen der Demo gesperrt«, entgegnete er, ohne die Augen von der Straße zu wenden.
Von der Straßenecke aus spähte Kate die St. Giles hinunter in Richtung Innenstadt und Cornmarket. Die Platanen rechts von ihr streckten ihre Zweige mit den herbstgelben, langsam braun werdenden Blättern in den klaren, blauen Himmel. Eine schier unübersehbare Menge von Demonstranten näherte sich langsam. Die Leute hielten Spruchbänder und Plakate hoch. Kate konnte das Ende des Zuges, der die gesamte Straße einnahm, nicht erkennen.
»Ich muss zum Cornmarket«, erklärte sie dem Polizisten. Sie wollte sich dort nach Blumenzwiebeln umsehen und eine Kleinigkeit zum Mittagessen im Feinkostgeschäft kaufen, ehe sie sich um die Grünpflanze kümmerte.
»Zum Cornmarket? Da gehen Sie am besten hintenherum«, antwortete der Polizist.
»Na, so viele Demonstranten werden es ja wohl nicht sein, oder?«
»Ein paar Hundert sicher. Sie werden sich am Universitätsgelände versammeln, wo eine Kundgebung vorgesehen ist.« Er drehte sich kurz um und blickte sie an. »Wir fürchten, dass es Krawalle geben könnte; die Gruppierung hier zählt nicht gerade zu den friedlichsten. Gehen Sie lieber wieder nach Hause.«
Kate gefiel es absolut nicht, für ein Weichei gehalten zu werden. Was konnte ihr ein bisschen Krawall schon schaden? Sie blieb, wo sie war.
Die Spitze des Demonstrationszuges näherte sich. Kate hörte, wie der Anführer rief:
»Was wollen wir?«
»Stoppt die Folter!«, grölte der Pulk, der ihm folgte.
Die Stimme des Anführers überschlug sich fast. Die Demonstranten hinter ihm schwenkten ihre Spruchbänder und skandierten immer wieder die gleichen Worte, bis sie von den Gebäuden rechts und links der Straße widerhallten.
»Stoppt die Folter!«
Sofort dachte Kate an die Gefangenenlager in Guantanamo Bay. Ging es vielleicht um menschenunwürdige Verhörmethoden? Doch dann las sie die Worte auf den Spruchbändern. »Tierversuche – Nein danke!«
Kate ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Demonstranten möglicherweise gut daran täten, ihre Prioritäten noch einmal zu überdenken.
An der Kirche St. Giles bog der Zug nach rechts in die Banbury Road ab. Kate
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