Nebelriss
auf die Stirn.
»Drafur!«, hallten die Stimmen aus dem Gewölbe. Die Quelle war frei.
VORREDE DES ERSTEN BUCHES
Vierhundert Jahre …
Vor mehr als vierhundert Jahren gründeten zehn reiche Kaufleute den Südbund, eine Schutzgemeinschaft gegen die Tyrannei des Nordens. Arphat, Gyr und Candacar waren die Herrscher dieser Tage; die Alten Königreiche, die den Kontinent mit ihren Kriegen überzogen und die Völker des Südens unterjochten und ausbeuteten. Arphats Herrschaft war die grausamste. Den arphatischen Kriegsherren ging es um mehr als um den bloßen Besitz des Landes und die Versklavung seiner Einwohner. Es dürstete sie nach Macht: sich an ihr zu berauschen, sie auszukosten. Selbst geringe Vergehen ahndeten sie mit Folter und Hinrichtung, jeden Aufruhr mit der Niederbrennung ganzer Dörfer. Mit gnadenloser Härte zwangen sie die Unterdrückten zum Gehorsam. Doch den langsamen Aufstieg des Südbundes vermochten auch sie nicht zu verhindern. Sie mussten mit ansehen, wie der Bund den Handel im Süden an sich riss, wie sein Reichtum unaufhaltsam wuchs, während die Königreiche sich in ständigen Kriegen gegenseitig schwächten. Als sie den Bund schließlich zu zerschlagen versuchten, war es längst zu spät. Der Süden erhob sich unter der Führung des Bundes gegen die Fremdherrschaft, und bald schlössen sich auch die versklavten Völker der Inseln im Silbermeer an.
Es war ein mörderischer Krieg. Zwölf Jahre lang tobte er und kostete unzählige Menschen das Leben. Am Ende siegte der Südbund. Candacar zerbrach in zwei Teile, als Kathyga sich nach einem Bürgerkrieg abspaltete; Gyr und Arphat versanken im Chaos - und der Süden war frei.
Die Führer des Südbundes, die einst Kaufleute gewesen waren, machten sich zu Fürsten und errichteten ein Reich, an dessen Spitze ein Herrscher aus ihrer Mitte stand. So entstand Sithar, das Kaiserreich am Silbermeer. Es war ein gewaltiges Reich, fast unvorstellbar in seiner Ausdehnung; von den gewaltigen Inseln Morthyl und Vodtiva bis zu den Buchten Palguras, von den kühlen Ebenen Palidons bis zu den thokischen Steppen. Und es war ein mächtiges Reich; es besaß das größte Heer, das die Welt je gesehen hatte, seine Flotte beherrschte das Silbermeer, seine Kaufleute diktierten den Handel. Und Sithars Fürsten wurden mächtiger, als die Könige des Nordens es jemals gewesen waren.
KAPITEL 1 - Laub
Im Palastgarten tanzten die Blätter. In einem wilden Reigen folgten sie dem Herbstwind, der sie durch das Geäst riss: mal sanft im Kreis, dann wieder wüst empor zu den Baumwipfeln. Goldgelb brach die Abendsonne durch die leeren Zweige. Es wisperten die Farne am Rand der marmornen Wege, und oben zogen rot gefiederte Kapuzenvögel ihre Kreise und sangen ihr melancholisches Lied.
Am Brunnen plätscherte Wasser aus den Mündern steinerner Figuren. Hier fand ein rauschendes Fest statt. Zwei Spielleute, kullernde Augen und Zwirbelbärte, in bunte Tücher gehüllt, spielten mit Laute und Flöte zum Tanz auf. Ein kleiner Meeraffe drehte sich auf einer Trommel, schielte traurig unter seinem grünen Hut hervor. Und dröhnendes Gelächter, lautstarkes Kichern, Ausgelassenheit. Auf weißen Seidenlaken lümmelte sich der Jungadel im Gras, die kostbaren Schuhe abgestreift, die Beine weit ausgestreckt. Manche tanzten mit hitzigen Gesichtern zu den übermütigen Melodien. Unzählige Bedienstete huschten über das Gras, in den Händen silberne Platten mit frischem Obst, geröstetem Fleisch und Fisch, dampfendem Honigbrot, kristallenen Karaffen voll Wein und Gerstentrunk.
Die Kaiserliche Hauptstadt Thax dämmerte dem Abend entgegen. Die Bürger gingen ihren Geschäften nach, eilten durch die Gassen, arbeiteten in ihren Kammern und Werkstätten. Nur hier, im Garten des Palastes, wurde gefeiert. Der Kaiserliche Hofstaat hatte immer etwas zu feiern.
Jung waren sie, die Männer und Frauen, die der Kaiser um sich versammelte. Niemand in ihrer Runde war über fünfundzwanzig; junge Töchter und Söhne aus dem Kleinadel. Allen gemeinsam waren ein niederer Stand und eine erlesene Attraktivität, denn dies waren die Kriterien, nach denen der Thronrat sie für das höfische Leben ausgewählt hatte.
Keine Frage, sie genossen es. Wo sie einst den Vätern bei der Verwaltung der Ländereien hatten helfen müssen, wartete jetzt ungezügelte Freiheit auf sie. Hier brauchten sie keine Verantwortung zu übernehmen, hier hatten sie lediglich mit ihrer Anwesenheit den Kaiser zu beglücken.
»Lang lebe
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