Nebeltod auf Norderney
D er Himmel zeigte sich grau in grau und war an diesem ungemütlichen Januartag mit einer dichten Wolkendecke überzogen. Seit Wochen hatte es bei flauen Winden fast unentwegt geregnet. Die lang ersehnte Wetterbesserung war bisher ausgeblieben.
Doch dann lag Änderung in der Luft. Bereits gegen Mittag drehte der Wind und wuchs von Stärke 3 auf 7 bis 8 an. Er kam aus Westen und trieb das Wasser der Flut vor sich her, sodass das mittlere Hochwasser fast bis zur Strandpromenade anstieg. Am Nachmittag ließ der Regen nach, und der Himmel klarte auf. Das Thermometer fiel und zeigte 7 Grad an.
Es war ruhig auf der Insel Baltrum an diesem Januartag. Der Strand und die Gehwege durch die Dünen waren verwaist. Die Möwen hingen schreiend im Wind. Selbst die wenigen Fremden, die sonst auch bei stürmischem Wetter die Wege an der Brandung entlang nicht scheuten, blieben heute in ihren Wohnungen.
Gegen 17 Uhr nahm der Wind noch mehr zu. Er heulte um die Häuser, die geduckt hinter den bewachsenen Sanddünen lagen.
Am Nachmittag war der Markt geöffnet, und die Leiterin redete mit der Kundschaft über das neue Theaterstück. Für die Erstaufführung am 29. Januar übte die »Spielkoppel« das Stück »Der Besuch der alten Dame« ein. Die Marktleiterin spielte eine kleine Rolle in dem Stück und freute sich auf die Aufführungen.
Als der Hausmeister des Gemeindezentrums den Laden betrat und im Gegensatz zu sonst mit ernstem Gesicht um sich schaute, ahnten alle, dass etwas seinen Frieden gestört haben musste. Er war um die fünfzig.
»Mein Schwager aus Wedel ist tot«, sagte er und kämpfte mit den Tränen. »Er fuhr auf dem Hamburger Frachter ›Brandenburg‹ alsZweiter Offizier. Sie sind im Kanal vor Dover abgesoffen. Eben kam es durch die Nachrichten.«
»Als ich zur See fuhr, haben wir im Kanal mitunter schon zehn Meter hohe Wellen gehabt«, sagte ein alter Insulaner. Er legte eine Flasche Corvit in seinen Einkaufswagen.
Die Marktleiterin bediente ihre Kasse und kassierte von einer Kundin für den Einkauf den Barbetrag.
»Ein neuer Schreihals scheint sich zu Wort zu melden«, sagte sie. »Der Doktor hatte es eilig. Er ging eben hier mit seiner Tasche vorbei.«
»Greetje Wilbert war dran«, sagte eine Kundin spöttisch. »Zu mir braucht der Doktor nicht mehr zu kommen. Meine Kinder sind groß. Doch sie müssen runter von der Insel. Die Kurverwaltung hat keine Arbeit mehr.«
»Ist denn ihr Mann zu Hause?«, fragte die Marktleiterin.
»Er fuhr für Tütjer und hatte einen Unfall. Das Pferd ging durch. Enno Wilbert kann jetzt seiner Frau beistehen«, gab die Kundin zur Antwort. Doch während die Kunden sich geduldig in der Schlange vor der Kasse einfanden, wechselten sie das Thema und sprachen, was nahe lag, über das Wetter. Schließlich erlebten sie das Wetter aus erster Hand.
Derweil war Greetje Wilbert in der Tat dran. Ihr Mann hatte nach dem Doktor geschickt. Er hatte bei den Pferden so seine Erfahrungen gemacht. Er wollte kein Risiko eingehen. Greetje hatte nur die Hebamme gewünscht. Wenn eine Stute seines Unternehmers ein Fohlen bekam, standen sie mit mehreren erfahrenen Knechten parat, um dem Tier Geburtshilfe zu leisten. Aus dieser Erfahrung hatte er seine Konsequenzen gezogen. Da wollte er seine Frau in diesen schmerzhaften Stunden in den besten Händen wissen, egal, ob die Krankenkasse dafür aufkam oder nicht.
Das zahlte sich aus, denn der Inseldoktor entband sie von einem gesunden Jungen. Die glückliche Mama entdeckte schon Ähnlichkeiten mit dem Papa, als sie das Baby das erste Mal in ihren Armen hielt.
Enno Wilbert zählte zum Stamm der Beschäftigten des Pferdetransportunternehmers Tütjer auf Baltrum. Er war ein kräftiger, gesunder Mann, der als Kutscher über fehlende Arbeit nicht zu klagen hatte. Bereits im April begannen die Pensionen und Hotels auf der Insel mit den Einkäufen für die Saison. Alles musste vom Schiff mit Pferd und Wagen angekarrt werden. Dazu zählten auch die Baumaterialien. Neben der Tätigkeit als Fuhrmann oblag Enno Wilbert die Pflege und Versorgung der Pferde. Im Winter hielt der Unternehmer aus Kostengründen die Mannschaft klein, sodass sich Überstunden nicht vermeiden ließen.
Enno Wilbert liebte seine Frau und hatte sich von ihr sehnlichst ein Kind gewünscht. Sie nannten den Knaben Dodo. Für Enno und seine Frau Greetje begann eine aufopferungsreiche, aber auch schöne Zeit. Sie wohnten in einer einfachen Mietwohnung im Hause des Unternehmers in der
Weitere Kostenlose Bücher