Neben Der Spur
andere windet sich leise greinend.
»Hallo«, ruft Hans-Bernward und rüttelt an den Stäben. Die Antwort ist ein Chor aus Wimmern und Ächzen. Behinderte? Seelisch Kranke? Wut und Entsetzen packen ihn. Was ist das für ein Haus? Was für ein Grauen! Ob Vali auch hier eingesperrt war?
Das seltsame Mädchen geht gleichmütig weiter. Hinter einer zweiflügeligen Holztür wartet ein Kontrastprogramm: ein kleiner Saal voller Menschen, die kichernd eine Realityshow verfolgen. Und dann – wenige Stufen einer breiten Wendeltreppe abwärts gefolgt – erspäht Hans-Bernward ein hell erleuchtetes Foyer, in dem sich eine Blondine auf der Besuchercouch ausstreckt und in einem Modemagazin blättert. Dabei kommandiert sie einen bekittelten Menschen mit Preisboxerstatur herum, der ihr ein Glas Limonade serviert.
Ein kluger Mann wie Hans-Bernward muss nicht unbedingt verstehen, wo er ist, um zu wissen, dass er schleunigst und unauffällig verschwinden sollte. »Another exit, liebes Mädchen?«, flüstert er. »Anderer Ausgang?«
Das Kind führt ihn gehorsam zurück nach oben, durch die Flügeltür und einen weiteren Flur ins Freie. Nur ein niedriges Gittertor trennt sie von der Straße. Hans-Bernward macht Vali los, hievt ihn auf die andere Seite, macht selbst einen Satz über das Tor hinweg – einen Satz, den er sich niemals zugetraut hätte. Pech allerdings, dass ihm das Smartphone von diesem Bruss bei der ganzen Aktion aus der Hand gefallen und im Hof liegen geblieben ist.
Egal! Weiter! Halb nackt wie er nun mal ist, mit dem ebenso halb nackten Vali auf dem Rücken, rennt er auf die Fahrbahn: »Hilfe! Help! Mörder!«
In Cheb passiert, was überall passieren würde. Zwei einzig mit Windeln bekleidete Männer am späten Abend auf der Straße verursachen im Nu einen Menschenauflauf. Da der eine von beiden ohnmächtig scheint, ruft jemand den Krankenwagen und die Sanitäter laden ihn ohne Federlesens ein. Doch den nach Bier riechenden Deutschen, der fortwährend »Mörder« schreit, überlässt man gern der sympathischen blonden Nurse, die samt Wärtern angelaufen kommt, um den entlaufenen Heiminsassen zurückzuholen. Zumal ein äußerst gut gekleideter Landsmann mit modisch zurückgekämmtem Haar angibt, den Verwirrten gut zu kennen und sich um ihn kümmern zu wollen.
Draußen dämmert es. Der Lichtquader, der durch den Schacht fällt, wird blasser. Die rote Lampe der Schaltanlage ist das hellste Licht im Raum. Karos Smartphone zeigt 21.20 Uhr. Schon eine halbe Stunde ist es her, dass sie de Beer befreit haben, und Rick ist immer noch bewusstlos, aber er atmet regelmäßig. Ein wenig Speichel rinnt über sein stoppeliges Kinn. Karo streichelt ihm die kringeligen Haare aus der Stirn.
»Rick, mein Glitzerprinz, wach endlich auf!« Sie probiert es mit ein paar sanften Ohrfeigen …
Da! Er stöhnt, blinzelt, reibt sich den Kopf, starrt sie an, guckt um sich wie ein Betrunkener: »Wer war das?«
»Erklär ich dir später«, verspricht Karo, hilft ihm, sich aufzurichten. »Wir müssen sofort raus hier, die Polizei rufen!«
»Wer war das?«, insistiert er.
»De Beer. Aber er hat’s nicht böse gemeint.«
»He?«
»Du hast die Tür zu einem Kühlraum aufgemacht, in dem er eingesperrt war. Er und Valentin Hepp. Jemand wollte die beiden umbringen. – Lass uns verschwinden. Schnell! Versuch dich zu erinnern, wie wir reingekommen sind.«
Rick rappelt sich auf, runzelt die Stirn. »Wo sind die zwei jetzt?«
»Weg! De Beer schleppt Hepp junior zu irgendeinem Ausgang, wo wenigstens der Notruf funktioniert. Ich hab de Beer dein Handy gegeben.«
»Was hast du?« Rick sieht sie ungläubig an. Seine Augen blitzen.
»Beruhige dich! Kriegst es bestimmt wieder. Aber der junge Hepp muss dringend in ein Krankenhaus. Da braucht de Beer ein Handy!«
Rick wendet sich um, hechtet auf die rote Leuchte zu, drück sie fest, eine Sirene heult los, ein blendend helles Licht springt surrend an.
»Spinnst du, was tust du da? De Beer ist harmlos. Aber dieser Keller ist eine Mörderhöhle. Und der Gemüsegarten vielleicht der Friedhof dazu. Wenn die uns finden … «
Rick ist mit einem Satz wieder bei ihr. Grinst. Nein, das ist nicht Ricks Gesicht, das da grinst. Es ist eine Fratze, die Karo noch nie gesehen hat. Und Hände, die sie noch nie gespürt hat, greifen in ihr Haar, reißen ihren Kopf nach hinten und drücken ihr ein Klappmesser an die Kehle. Es ist ganz warm, das Messer. Es muss in seiner Hosentasche gesteckt haben. Karo
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