Neben Der Spur
durch!«
Später Nachmittag, Sonnenlicht flackert durchs Rückfenster, als winke es Karo hinterher. Die Fahrt hat sich hingezogen, weil ein quer stehender Laster auf der A 9 für kilometerlangen Stau sorgte. Aber jetzt kann die Grenze nicht mehr weit sein. Rick kurvt über die Landstraße, steile und steinige Böschungen auf beiden Seiten, dann Flachland, fast monochrom grün. Im Radio läuft Lenas Taken by a Stranger .
Rick steuert den Golf mit der Linken, hat den rechten Arm um Karo gelegt, summt mit.
Mira sitzt stumm im Fond, sieht zum Fenster hinaus und spielt mit dem Kompass.
Karo packt die letzten Proviantbrötchen aus, eins mit Paprikawurst für Rick, eins mit Vanillezucker für Mira. Sich selbst gönnt sie eins mit Tomate und Gurke, rutscht tief in den Beifahrersitz, während sie kaut. Und genießt die Fahrt. Es ist ein bisschen wie Familie, denkt sie, kein schlechtes Leben eigentlich. Aber ob Rick ein guter Vater wäre? Sie betrachtet ihn von der Seite. Schon wieder die Überraschung: Auch im Profil sieht er kaum wie Justin Timberlake aus, eher wie … wie irgendein anderer Sänger? Oder Filmstar? Es will und will ihr nicht einfallen.
»Ist sogar ganz praktisch, die Kleine dabeizuhaben«, sagt Rick unvermittelt und zwinkert Karo zu. »Wir könnten, wenn wir wegen Valentin Hepp die Klapsmühlen in der Gegend absuchen, so tun, als suchten wir eine Betreuung für sie.«
Karo erscheint der Gedanke ein bisschen zynisch, aber ihr fällt kein Gegenargument ein. »Hmmm«, sagt sie und befindet im Stillen, dass Rick zumindest kein guter Vater für ein behindertes Kind wäre.
Die Verkehrsschilder wechseln von Gelb zu Blau. Pastellfarbige Plattenbauten grüßen von Weitem. Rick macht an einer Tankstelle Rast, googelt in seinem Smartphone und findet raus, dass es direkt in Cheb ein Heim für geistig Behinderte gibt. Nicht mal allzu weit vom Institut entfernt. Er tippt die Adresse ins Navi und fährt weiter.
Es ist eine Villa im Zuckerbäckerstil wie alle in dieser Straße, schmutzigorange verputzt, mit sandsteinumrahmten Sprossenfenstern. Senkrechte Schlieren entlang der Hausfront lassen auf eine löchrige Regenrinne schließen. Die dreifachverglaste Eingangstür allerdings erinnert an moderne Bankfilialen. Karo drückt die Klingel.
Die Frau, die ihnen öffnet, ist Anfang dreißig, etwas zu drall in Karos Augen. Aber blond. Und ziemlich hübsch. Mit honigsüßem Lächeln und auf Englisch teilt sie mit, dass das Haus heute für Besucher geschlossen sei. Ein paar charmante Worte von Rick stimmen sie um. Sie heiße Anna und sei eine nurse, sagt sie. Alle drei dürfen eintreten.
Der steinerne Fußboden, die hohen weißen Wände, die Resopalmöbel, alles macht einen unterkühlten, aber ordentlichen Eindruck. Die Besuchertruppe darf Anna über eine geschwungene Treppe nach oben folgen und die beiden Schlafsäle besichtigen, male und female, die in getrennten Flügeln untergebracht sind. Karo registriert fünfundzwanzig Betten, keins hat Gitter. Im Zentrum der Etage ist der Fernsehraum untergebracht, wo die Schar Heimbewohner wie im Kino aufgereiht sitzt. Auf einem supermodernen Flachbildschirm tanzt eine Trachtengruppe zu Zimbalmusik in Überlautstärke.
»Ahoj« , ruft Karo, weil man so in Tschechien Hallo sagt. Sie bekommt keine Antwort. Die Gruppe starrt auf den Fernseher, futtert dabei Kartoffelchips und Popcorn.
»Auch eine Form von Zwangsjacke«, raunt Karo Rick zu.
Der zuckt die Achseln. »Wieso? Denen geht’s doch gut.«
»Wie viele Stunden die wohl täglich so da hocken? Das macht ja selbst einen Gesunden kirre«, insistiert Karo. Eilig scannt sie die kleine Versammlung nach Valentin Hepp ab, wie sie ihn von Fotos her kennt: ein großgewachsener junger Mann mit heller Haut, störrischem dunkelblondem Haar und einer Brille. Niemand ist dabei, der so aussieht.
In einem kinderzimmerkleinen Nebenraum kauern zwei grauhaarige Damen, offenbar Zwillinge, auf einer Couch, stieren ins Nichts und brabbeln vor sich hin. An einem rechteckigen Resopaltisch in der Mitte hockt ein krausköpfiger Mann, der ein Leidensgenosse von Mira sein könnte. Er spielt – die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt – mit sich selbst Scrabble. Mira setzt sich einen Meter entfernt von ihm hin, packt ihr kariertes Schulheft und einen Filzstift aus der Kindergartentasche, malt ihre Hieroglyphen.
Was Rick freudig zur Kenntnis nimmt: »Mira fühlt sich offenbar wohl hier«, sagt er und übersetzt mit einem Blick zu dieser
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