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Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs

Titel: Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
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lassen, so oft hatte man mich mit geübtem Mitgefühl im Blick und dem Hinweis, mich ein bisschen hinzulegen und im Dunkeln abzuwarten, dass die Pillen und Tropfen wirkten, wieder nach Hause geschickt, nie war jemand auch nur auf die Idee gekommen, meinen Schädel zu durchleuchten und nach etwas abzusuchen, das, folgte man Ellens Andeutungen, bereits seit langer Zeit hinter meiner Stirn nistete und sich immer weiter ausbreitete, sodass der Druck gegen meine Schädelplatte diesen grausamen Schmerz auslöste, den ich immerfort als Migräne abgetan und der in dieser Nacht bisher ungekannte Höhepunkte erreicht hatte.
    Ich musste an den jungen Anwalt Flemming denken, dessen Kopf ich einen Augenblick lang geglaubt hatte explodieren zu sehen – ich konnte den winzigen Knochensplitter noch immer juckend in meinem Handrücken stecken spüren, wenn ich mich darauf konzentrierte.
    Vermochte eine Hand voll entarteten Gewebes den Verstand eines Menschen tatsächlich derart zu beeinträchtigen, dass er sich solchen Horrorvisionen ausgeliefert sah? Was war mit meinem Willen, der in dieser Nacht viel schwächer gewesen war als die wackeligen Beine, die mich Wege entlangtrugen, die ich nicht gehen wollte. Und diese befremdliche Persönlichkeit, zu der ich mich so oft gewandelt hatte – war der brutale Sklaventreiber, der den Wirt in der kleinen Küche auf widerlichste Art und Weise gefoltert hatte, Teil eines hässlichen, gräulichen Klumpens, der auf meinen Charakter drückte? War er es, der Judiths Verletzlichkeit und Schwäche genossen hatte, die einen Moment lang bewirkt hatte, dass ich mich wie ein richtiger Mann, ein ganzer Kerl, ein egoistischer, oberflächlicher Macho gefühlt hatte? Wie lange würde der Tumor noch wuchern, ehe er mich dahinraffte, und wie sehr würde ich mich hassen für das, was aus mir geworden war, wenn ich endlich starb?
    Panische Angst drohte mich zu übermannen. Wenn, wann, ob, wie lange – ich durfte solche Fragen nicht an mich herankommen lassen. Wenn ich diese Burg bei lebendigem Leibe und mit einem Rest von Verstand verlassen wollte, musste ich aufhören, über solche Dinge nachzudenken. Ich sollte konsequent nichts mehr von dem, womit Ellen uns in den Irrsinn zu treiben versuchte, an mich heranlassen und nicht einmal mehr ansatzweise über ihre verrückten Thesen nachgrübeln. Zuerst ihre Paarungstheorie, ihre Vergleiche mit den Laborratten und der Unsinn, den sie über die Messdaten geredet hatte, die irgendjemand während unserer Bewusstlosigkeit über irgendwelche klebrigen Elektroden aus unseren Körpern gesogen hatte. Und nun sollten wir alle hirnkrank sein?
    Die Einzige, deren Hirn deutliche Beeinträchtigungen aufwies, war sie selbst, zum Teufel noch mal! Am liebsten hätte ich ihr ihre verdammte Zunge aus dem Hals gerissen und sie damit stranguliert.
    »Nur weil hier ein paar Präparate mit Hirntumoren ausgestellt sind, heißt das noch lange nicht, dass wir auch unter so etwas leiden«, wiegelte Judith in diesem Moment ab, aber auch sie wirkte blass und klang alles andere als überzeugt von dem, was sie sagte. Dennoch war ich ihr dankbar für ihren vernünftig klingenden Einwand. »Und dass man Kopfschmerzen bekommt, wenn sämtliche Lautsprecher im Turm gleichzeitig in Betrieb genommen werden, ist auch nur selbstverständlich«, setzte sie hinzu, als Ellen sie mit einem viel sagenden Blick bedachte.
    »Findest du?« Die Chirurgin schüttelte entschieden den Kopf. »Carl war von diesen Schmerzen aber ganz offensichtlich nicht betroffen. Er hätte ebenso zusammenbrechen müssen wie wir.«
    »Der ist vielleicht längst halb taub, weil er seine gesamte Jugend in der Crailsfeldener Dorfdisko verbracht hat«, entgegnete Judith spöttisch. »Mit dem einen oder anderen Joint und anderen stimmungsfördernden Drogen.«
    Ihre Argumente waren simpel, aber sie klangen durchaus plausibel; zumindest, wenn man es sich so sehr wünschte, wie ich in diesem Augenblick. Langsam erlangte ich die Kontrolle über Körper und Geist zurück, konnte aber trotzdem dem Drang, noch einmal an die Vitrinen heranzutreten und einen letzten Blick in die ausgestellten Glaszylinder zu werfen, nicht widerstehen. Nicht alle der Geschwüre, die die Ärztin als Hirntumore identifiziert hatte, waren von gräulichem Farbton. Einige von ihnen hatte man mit einem unnatürlich wirkenden Rotton eingefärbt, sodass sie sich nur zu deutlich von der grauweißen Hirnmasse abhoben. Manche davon waren von so erschreckender Größe, dass

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