Nemesis 05 - Die Stunde des Wolfs
leistungsfähigen Rechner bereits hochgefahren und begann in diesen Sekunden abwechselnd auf der schnurlosen Tastatur vor dem Monitor herumzutippen und nervös den kleinen Pfeil der ebenfalls schnurlosen Maus über den Desktop huschen zu lassen.
Ungläubig trat ich an die Seite Judiths, die hinter der Ärztin Aufstellung genommen hatte und ihr konzentriert über die Schulter blickte. Wenn es noch eines Beweises bedurft hatte, mich endgültig davon zu überzeugen, dass diese Anlage hier noch immer genutzt wurde, dann stand er nun in Form eines kleinen Rechners vor mir, von dem ich für mich selbst noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Gleich mehrere Festplatten sorgten für eine Speicherkapazität, die alle vier PCs, die ich in den vergangenen drei Jahren ruiniert hatte, gemeinsam nicht aufgebracht hätten. Die Auflösung des Farbfotos, das als Desktophintergrund verwendet worden war und Burg Crailsfelden bei strahlend blauem Himmel auf einem von saftigem Grün überwucherten Burgberg zeigte, war schlichtweg phänomenal – fast fühlte ich mich, als könnte ich die Burg als kleines Spielzeug aus dem wenige Zentimeter tiefen Flachbildschirm ziehen, wenn ich die Hand nach ihr ausstreckte. Es gab kein Diskettenlaufwerk, aber das war auch nicht nötig, denn dafür entdeckte ich zwei CD-Rom-Laufwerke und gleich ein knappes halbes Dutzend Speicherkarten, außerdem mindestens einen drahtlosen Internetzugang. Dieses Gerät musste ein Traum für jeden Softwarepiraten sein.
Ellen überflog den Inhalt der Festplatten und öffnete schließlich zielsicher eine Verwaltungsdatei aus dem Archiv, auf das sie schnell gestoßen war. Mit nervösen Bewegungen gab sie einen der Zahlencodes in das Suchfenster ein, das sich ohne ihr Zutun gleich neben dem Hauptfenster öffnete, und auf letzterem blinkte ein mir fremder Name innerhalb einer langen Liste anderer auf.
Gorpel, Hans-Peter. Dem Namen folgte die Zahl, die Ellen eingegeben hatte. Ich überflog die Liste, wobei mein Interesse eher der unglaublichen Auflösung des Rechners galt, als der Namensliste, auf der die Ärztin sich langsam vorwärts scrollte, und stutzte, als ich meinen Nachnamen überflogen zu haben glaubte.
»Halt«, forderte ich die Ärztin irritiert und erschrocken auf. »Geh noch einmal zurück, bitte. Nur ein kleines Stück.«
Ellen gehorchte, und ein bitterer Geschmack stieg in meinem Hals auf und legte sich auf meine Zunge, als ich feststellte, dass ich mich nicht geirrt hatte. Ich las den Namen gleich drei- oder viermal hintereinander, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht täuschte, aber mein Wunsch, mich geirrt zu haben, blieb ein vergeblicher: Da stand eindeutig mein Nachname: Gorresberg.
Gorresberg, Maria, um genau zu sein. Der Name meiner Mutter!
Erschrocken und fassungslos hielt ich unwillkürlich den Atem an. Was hatte der Name meiner Mutter im Archiv einer geheimen Forschungsstation, die seit dem Dritten Reich in einem Labyrinth unter einer Burg betrieben wurde, zu suchen? Und damit noch nicht genug: Gleich unter ihrem Namen erspähte ich auch den meines Vaters, Rolf Gorresberg. Außerdem die einer gewissen Elisabeth sowie eines Adolf Gorresberg – meine Großeltern!
Ich versuchte, den bitteren, harten Kloß herunterzuschlucken, zu welchem sich der üble Geschmack binnen weniger Sekunden in meinem Hals zusammengeballt hatte, doch bevor es mir gelang und ich irgendetwas sagen konnte, hatte Ellen, deren Gesicht auf einmal wie versteinert wirkte, bereits den Namen Bergmann in das Suchfenster eingegeben, und er blinkte gleich vierfach an einer anderen Stelle der Liste auf, die sich weit über den Namen mit dem Anfangsbuchstaben G befand, sodass die Namen meiner Eltern und Großeltern aus dem Fenster auf dem Desktop verschwanden.
»Das ... ist meine Oma«, flüsterte die Ärztin tonlos und klickte einen der aufblinkenden Namen an. Ein weiteres kleines Fenster öffnete sich, in dem sich Einträge über eine Frau mit dem Namen Susanne Bergmann fanden, der Frau, die Ellen ihre Großmutter genannt hatte. Einträge, die mit einer Schreibmaschine auf vergilbtem Papier festgehalten und schließlich in den Computer eingescannt worden waren. Die letzten davon lauteten:
Burg Crailsfelden, den 17. 09. 1958
Patientin Susanne Bergmann
Mussten die tägliche Opiumgabe erneut erhöhen. Die Patientin befindet sich überwiegend in lethargischem Zustand, unterbrochen von Schmerzattacken, die auch durch Opiumgabe nicht mehr gedämpft werden können.
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