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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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Geige einen Blick zu und legte den Finger an die Lippen. Vorsichtig blinzelte er durch den Regen, der ein wenig nachgelassen hatte. Neblige Schleier zogen über den Boden, es dampfte aus einem nahe gelegenen Kanaldeckel. Enzo beugte sich vor, um besser sehen zu können, als er ein Scharren hörte, ganz in seiner Nähe. Fast gleichzeitig bemerkte er die große Spinne auf seiner Hand. Angewidert schüttelte er den Arm und schleuderte das Tier hinaus in den Regen. Dort blieb es sitzen und starrte lauernd zu ihm herüber. Im selben Moment liefen Eiskristalle über den Hals seiner Geige, so schnell, dass er sie wachsen sehen konnte. Ein Schauer flog über seinen Rücken wie die Erinnerung an einen bösen Traum. Gleich darauf fuhr ein heftiger Windstoß in seine Behausung, wirbelte die Zeitungen durcheinander und riss die Kartons in die Höhe. Enzo griff nach seiner Geige, hielt die Zeitungen fest und ließ sich auf einen Kleiderhaufen fallen, als der Sturm so plötzlich aufhörte, wie er gekommen war. Er strich sich die Haare aus der Stirn. Ein Ton hing in der Luft wie das Klingen eines halb gefüllten Glases unter der Berührung eines am Rand entlangfahrenden Fingers. Enzo spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Im gleichen Augenblick sah er den Fremden.
    Er hockte auf dem Bretterstapel vor der Hauswand gegenüber, pechschwarz und zusammengesunken, dass man ihn fast für einen Berg Lumpen hätte halten können. Aber aus den Ärmeln des langen Mantels ragten ungewöhnlich weiße Hände, und der Regen tropfte von einem dunklen, breitkrempigen Hut, der das Gesicht vollständig verbarg. Neben ihm saß ein schwarzer Wolf, hochaufgerichtet und lauernd. Enzo fuhr sich über den Mund wie ein Verdurstender.
    »Nein«, flüsterte er kaum hörbar. »Das ist unmöglich.«
    Da hob der Fremde den Kopf. Sein Gesicht war kalkweiß und lippenlos, die Haut zog sich wie uraltes Pergament über die hohen Wangenknochen und die scheinbar mehrfach gebrochene Nase, und die Augen lagen so tief in ihren Höhlen, dass es schien, als wäre da nichts als Finsternis. Enzo wich zurück, doch nicht vor dem Schrecken dieses Anblicks.
    Er sah dieses Gesicht nicht zum ersten Mal.
    Seine Hand grub sich so fest in die Zeitungen, dass seine Gelenke knackten, doch er fühlte es nicht.
    Er war gekommen.
    Für einen Augenblick konnte Enzo nicht atmen, das Grauen schloss sich fest um seine Brust. Doch gleich darauf flutete ihn ein anderes Gefühl. Die Zeit war gekommen. Das Leben im Schmutz und im Verborgenen, die Jahrhunderte in den Schatten – jetzt würde es enden. Er holte tief Atem, fast schien es ihm, als täte er es zum ersten Mal. Und mit einer einzigen raschen Bewegung löste er sich aus seiner Erstarrung und trat hinaus in den Regen. Er fühlte die Tropfen, die nur noch leicht fielen, wie Liebkosungen auf seinem Gesicht, und der Boden unter seinen bloßen Füßen war beinahe warm.
    »Bhrorok«, sagte er und hörte zum ersten Mal seit unendlich langer Zeit wieder seine wirkliche Stimme, dunkel und kraftvoll, wie sie damals gewesen war.
    Der Fremde, der kein Fremder mehr war, öffnete den Mund, doch er antwortete nicht. Stattdessen kroch Nebel über seine Lippen, zäh wie Sirup. Er brachte die Luft zum Erstarren, Eisblumen zogen sich durch den Regen. Enzo sah die weißen Hände mit den schwarzen, eingerissenen Nägeln und wie sich etwas Madengroßes schmatzend und rasselnd unter der Haut der rechten Hand entlangwand. Dann neigte Bhrorok den Kopf, und ein Wort glitt aus seinem Mund, getragen von einer Stimme, die heiser klang wie ein Schrei im Sturm.
    »Yrphramar.«
    Enzo schauderte. Wie lange war er nicht mehr mit diesem Namen angesprochen worden? Ein bitteres Lächeln stahl sich auf seine Lippen. War es nicht ein Hohn, dass ausgerechnet diese Kreatur ihm den Respekt zollte, den er verdiente – als erstes Wesen seit so langer Zeit?
    Er erwiderte die Geste, auch er neigte den Kopf, und während er das tat, flackerten tausend Bilder durch seinen Sinn. Er sah sich auf Schlachtfeldern und auf der Jagd, spürte den bitteren Geschmack der Beschwörungen auf seinen Lippen und den warmen Klang der Zauber, und auf einmal fühlte er den Schmutz von sich abfallen, all den Unrat, den er in dieser falschen Welt angesammelt hatte, und als er den Blick hob und Bhrorok ansah, war er nicht mehr Enzo mit dem Geigenkasten. Yrphramar – das war sein Name. Er war ein Krieger, ein Jäger, das war er immer gewesen. Er war geflohen, und nun hatte man ihn gestellt. Doch

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