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Nephilim

Nephilim

Titel: Nephilim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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Atmen schwerfiel. Entschlossen wandte er sich ab. Er hatte keine Zeit, um sich in trübsinnigen Gedanken zu verlieren. Abrechnung, Lager aufräumen und dann auch noch Wischen mit dieser widerwärtigen Essiglösung, die Signor Bovino eigenhändig zusammengemischt hatte und die dermaßen stank, dass es in der Tat keinem Keim einfallen würde, sich auf ihr niederzulassen. Er musste sich beeilen, um nicht zu spät zu seinem eigenen Festessen zu kommen. Er ging zur Kasse, einem riesigen, messingfarbenen Ungetüm aus dem vorigen Jahrhundert – Signor Bovino weigerte sich standhaft, eine neue anzuschaffen, dieser ganze neumodische Schnickschnack ist der größte Quatsch, den man sich vorstellen kann – und zog an dem Hebel zum Öffnen des Geldfachs. Nichts rührte sich.
    »Nein«, murmelte Nando eindringlich. »Tu mir das nicht an. Nicht heute.« Noch einmal zog er an dem Hebel, ein metallenes Klirren ertönte im Inneren der Kasse, dann etwas wie ein Seufzen – und der Hebel bewegte sich nicht mehr. Nando versuchte es vorsichtig und mit Gewalt, aber es half alles nichts. »Verdammtes Mistding!«, rief er und schlug mit der flachen Hand gegen die Kasse, dass die Münzen in ihrem Inneren klimperten und seine Handfläche brannte. Wütend presste er die Zähne aufeinander. »So einfach kommst du mir nicht davon«, murmelte er und griff nach dem Schraubenzieher, der im untersten Fach des Tresens lag. Gerade hatte er das Geldfach ein winziges Stück weit aufgehebelt, als der Regen mit Wucht gegen die Glastür schlug.
    Nando lief ein Schauer über den Rücken, als er gleich darauf das leise, klopfende Geräusch der Tropfen an der Tür hörte, so als würde eine unsichtbare Hand Einlass begehren. Es war ein Regen, wie er in seinem Traum fiel – jenem Traum, der sich seit sieben Tagen jede Nacht wiederholte: Er eilte durch die nächtlichen Straßen Roms. Er war auf der Flucht, ohne zu wissen, wer oder was ihn verfolgte. Die Stadt schien verlassen, doch die Schatten, die in den Häusernischen und Hinterhöfen lauerten, verbanden sich zu unheilvollen Schemen und jagten mit Klauenhänden hinter ihm her. Gleichzeitig neigten sich die Häuser zu ihm herab, als würden sie im Schein des Mondes schmelzen und ihn mit ihren starren Augen aus zerbrochenem Glas näher betrachten wollen. Dann hörte Nando die Stimme. Wispernd kroch sie über den Asphalt und drang aus den Abwasserkanälen wie zäher Nebel, dem sie mehr glich als jedem Laut, der aus der Kehle eines lebendigen Wesens hätte entweichen können. Sie war wie flammender Wüstenwind, schmeichelte, lockte und drohte, ohne jemals auch nur ein Wort zu sprechen, und doch verstand Nando sie instinktiv. Es war, als glitte sie mit glühenden Fingern über seine Haut und die Kehle hinab bis in sein Innerstes, und dort umstrich sie seine Gedanken, entfachte Sehnsüchte, von denen er bislang nichts geahnt hatte, und nährte seine Furcht vor dem Geist, der sie war. Sie wollte, dass Nando zu ihr kam, und sie bekam stets, was sie begehrte. In jedem Ton ihrer heiseren Gesänge schwang eine Grausamkeit mit, ein Hohngelächter, das Nando das Fleisch von den Knochen fressen würde, sobald er ihrem Ruf folgte. Tausendzüngig hatte sie Ozeane aus Finsternis überwunden, war durch Erz und Feuer gegangen und hatte Himmel zerbrechen sehen, nur um ihn zu finden – und sie würde erst ruhen, wenn er in ihrem Sturm zu Asche verbrannt war.
    Nacktes Grauen pochte in Nandos Schläfen, wenn er in seinem Traum vor der Stimme davonlief. Sie folgte ihm wie ein Fluch und je häufiger sich der Traum wiederholte, desto verheißungsvoller und drohender rief sie nach ihm und desto schwerer fiel es ihm, ihrem Ruf nicht zu folgen. Doch jedes Mal, wenn er kurz davorstand, den Lockungen zu erliegen, gelangte er in eine von silbrigem Dämmerlicht erfüllte Gasse, und die Stimme wurde zurückgedrängt, sodass er sie kaum noch wahrnahm. Stattdessen sah er eine Gestalt, die auf dem von Unrat bedeckten Boden kauerte. Es war ein junger Mann, und obgleich der Mond in voller Pracht über den Häusern stand, schienen seine Strahlen für einen Augenblick einzig auf dem Körper des Fremden zu liegen. Mit einer Hand stützte er sich am Boden ab, er hielt den Kopf geneigt, sodass sein Gesicht in den Schatten verborgen lag, und aus seinem Rücken ragten gewaltige Schwingen wie die Flügel eines Engels. Aber sie waren blutig und zerrissen, und der Körper des Mannes sah aus, als wäre er von riesigen Vögeln verwundet worden. Seine

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