Nephilim
war. Glutrot und schwingenrauschend raste er über die Dächer dahin, Nando sah die Dämonen, die erschrocken die Flucht ergriffen, und ihm stockte der Atem, als der Drache auf der Schwarzen Brücke landete, einen Flügel um die Reste des Mal’vranons schlang und brüllte – so laut und durchdringend, dass Flammenschwärme den Plünderern nacheilten und ihre Haut verbrannten. Nando sah das Gesicht des Teufels im Schlund des Drachen glimmen, sah auch das Entsetzen, das in den goldenen Augen aufloderte, und er ließ den Drachen noch einmal brüllen: Alles, was du verloren hast!
Und als hätte sein Ruf einen Schatten vertrieben, sah Nando nicht länger Bantoryn, die vernichtete Stadt. An Stelle der Rauchsäulen, der Aschewolken und schwelenden Feuer tauchten nun Bilder aus den Ruinen auf, die Gesichter von Drengur, Morpheus, Althos, Riccardo, Ilja, er sah Noemi und Silas, auch Paolo, Salados und immer wieder Antonio. Der rote Blütenstaub des Mohns stob in die Luft, der Wind trieb ihn in wilder Leidenschaft zu Nandos Spiel über den Hügel, während die Bilder vor dessen Augen aus den Straßen schossen. Sie formten sich zu Spiralen aus Licht und Schatten, zu Kaskaden aus Dämmerung, und trugen ihn durch die Gassen wie ein Meer, das seinem Willen gehorchte. Er nahm Abschied von Bantoryn, doch zugleich erinnerte er sich, er beschwor das wahre Gesicht der Stadt herauf, um es mit sich zu nehmen auf dem Weg, der vor ihm lag. Er spielte für den Ort jenseits des Lichts, spielte für die Stürme aus Nebel und Flammen, die ihn einst vor der Welt verborgen hatten, und für die Klauen aus Erz, die ihn umklammerten. Er spielte für den Ort, wo Helden eine Heimat fanden, seine Musik umhüllte die Ruinen des Mal’vranons, und sein Herz raste in seiner Brust, als er sah, wie sich die Stadt in seinen Gedanken neu erschuf, wie sie ihm Antwort gab aus der Dunkelheit, in die sie geworfen worden war – eine Antwort wie das Spiel der Nephilim, damals vor so langer Zeit, als Nando an seinem Fenster für sie gespielt hatte. Deutlich hörte er die Musik dieser Stadt, sah lachende Gesichter in ihren Straßen und fühlte ein Wort auf seinen Lippen, das der Wind mit sich trug und das jede Dunkelheit zerriss. He’vechray , raunte Bantoryn mit tausend Stimmen, und Nando antwortete ihr. Sein Spiel war mehr als ein Requiem. Es war ein Schwur an die Freiheit und ein Kniefall vor der Stadt, die ihn neu erschaffen hatte.
Atemlos schickte Nando die letzten Töne seines Spiels über die Stadt, und als er die Geige sinken ließ, da ging ein Dröhnen durch die Höhle, ein Grollen, das ihm den Atem stocken ließ. Ehrfürchtig saß er da, hörte auf das, was in mächtigen Impulsen den Boden zum Erzittern brachte, und spürte den Schauer, der ihm wie ein flüsternder Schatten über den Rücken strich. Mochte Bantoryn in die Finsternis gefallen sein – aber der Herzschlag der Drachen pulste durch das Feld des wispernden Mohns, und dieser Ton war es, der Nando schwebend hielt zwischen Licht und Schatten, der ihn aufrecht stehen ließ auf seinem Seil über dem Abgrund, und er würde sich diesen Klang bewahren auf seinem Weg, jenem Weg, an dessen Ende der Teufel auf ihn wartete.
Er erhob sich und ging zu Noemi und Avartos hinüber. Der Engel musterte ihn wortlos, und doch meinte Nando, weit hinten im Gold seiner Augen etwas wie ein Lächeln erkennen zu können, und als er Noemis Blick begegnete, nickte sie langsam, als würde sie ahnen, welchen Weg er gerade in seinem Inneren zurückgelegt hatte. Er fühlte einen schwachen Wärmeschauer, als Kaya sich auf seiner Schulter niederließ, und er lächelte kaum merklich. Mochte Luzifer auf ihn warten – aber er würde den Weg zu ihm nicht allein gehen müssen.
Schweigend wandten sie sich ab, und erst als sie die Hügel Bantoryns hinter sich gelassen hatten, schaute Nando noch einmal zurück. Er sah hinauf zu dem Drachen, der reglos und flammend auf der Schwarzen Brücke saß. Schon fielen einzelne Funken in glitzernden Kaskaden in die Gassen hinab und zerrissen die Schatten, die sich dort eingenistet hatten. Bald schon würde das Zeichen verblassen. Doch Nando spürte seine Flammen noch auf seinem Gesicht, als er sich längst wieder zum Gehen gewandt hatte, und er nahm das Bild mit sich: das Bild der Freiheit über den Gassen einer wartenden Stadt.
Originalausgabe Oktober 2011 bei LYX
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