Nephilim
meisten Obdachlosen, die er kannte, gaben sich selbst einen neuen Namen, wenn sie ihr bürgerliches Leben verließen.
Der Fremde schwieg eine Weile. Erst als Nando schon dachte, dass er seine Frage nicht gehört hatte, nickte er langsam. »Mein Name ist Antonio Montanaro«, erwiderte er mit einer Stimme, die rau klang, als hätten heftige Stürme zu lange mit ihr gespielt, und zugleich von einem warmen Unterton getragen wurde. Nando war sich sicher, noch nie eine solche Stimme gehört zu haben, und ertappte sich dabei, wie er den Fremden anstarrte. Verlegen griff er nach dem Schraubenzieher, drehte ihn zwischen den Fingern und legte ihn wieder weg.
»Nicht gerade ein ungewöhnlicher Name«, stellte er fest und hasste sich dafür. Wie oft hatte er diesen Satz gehört, wenn er sich selbst vorgestellt hatte. »Ich bin Nando«, sagte er und fuhr schnell fort: »So, wie du aussiehst, kommst du nicht aus der Gegend.«
Erst als er es ausgesprochen hatte, fiel ihm auf, wie recht er damit hatte. Der Fremde hatte sich in einen zerschlissenen Mantel gehüllt, wie Nando ihn bei zahlreichen Obdachlosen in ähnlicher Art jeden Tag sah, doch darunter trug er eine schwarze Hose mit grauen Streifen, eine passende Weste und schwere, von Gamaschen überzogene Stiefel. Seine Hände steckten in ledernen Handschuhen und um seinen Hals, halb verdeckt vom Kragen des unförmigen Mantels, lag eine alte Schweißerbrille mit merkwürdig schimmernden Gläsern. Nando zog die Brauen zusammen. Dieser Fremde war kein Obdachloser, da war er sich ziemlich sicher, und während er in diese schwarzen Augen schaute, überkam ihn zunehmend ein ungutes Gefühl. Kaum merklich lächelte er über sich selbst. Ihm waren schon genügend Menschen begegnet, die auf den ersten Blick absonderlich gewirkt hatten, und bislang hatte ihm keiner davon den Kopf abgerissen und falsch herum wieder auf die Schultern gesetzt.
»Woher kommst du also?«, fragte er und stellte befriedigt fest, dass seine Stimme keinerlei Misstrauen erahnen ließ.
Da lächelte Antonio, als hätte er die ganze Zeit auf diese Frage gewartet. Es war ein seltsames Lächeln, das seine Augen mit einer weißen Flamme weit hinten in den Pupillen spiegelten. Er beugte sich vor und senkte die Stimme, als wollte er Nando ein Geheimnis verraten.
»Kennst du einen Ort, an dem man den Herzschlag der Drachen hören kann?«, fragte er leise.
Nando lachte auf. »Wenn man meinen Chef dazuzählt, befinden wir uns gerade an einem«, sagte er, doch Antonio erwiderte sein Lächeln nicht. Nando wurde ernst. Er hatte schon viele abenteuerliche Geschichten von seinen Nachfeierabendgästen gehört und immer lebhaften Anteil an ihnen genommen, denn er wusste, dass es bisweilen leichter war, in Träumen zu leben als in der Wirklichkeit.
»Nun ja«, sagte er und zuckte mit den Schultern, »das hast du wohl nicht gemeint, was?«
Antonio erwiderte nichts. Kurz schien es, als würde sich das Schwarz der Iris in das Weiß der Augäpfel fressen wie dunkles Blut in frisch gefallenen Schnee. Doch gleich darauf begann die Lampe über dem Tresen zu flackern, und Nando konnte nicht mehr sagen, ob es nicht nur Schatten waren, die sich in den Augen seines Gegenübers sammelten. Der Blick des Fremden tastete über sein Gesicht wie Finger aus Wind, und als Antonio zu sprechen begann, sah Nando nichts mehr als die Dunkelheit in dessen Augen, die sich hob und senkte wie das Schlagen eines gewaltigen Schwingenpaares.
»Ich komme von einem Ort jenseits des Lichts«, raunte Antonio kaum hörbar. »Stürme aus Nebel und Flammen verbergen ihn vor der Welt, Klauen aus Erz halten ihn umklammert, und keine sterbliche Seele, die in seine Gassen geriet, hat ihn jemals wieder verlassen, ohne das Herz an ihn verloren zu haben. Häuser mit Türen aus glänzendem Metall schmiegen sich an rauen Fels, roter Staub weht über die Kopfsteinpflaster und trägt den Atem der Stadt in jeden Winkel meiner Welt. Es gibt eine Ebene ohne Zeit, dort, wo ich wohne, und Sterne aus Feuer und Eis. Morgens erwache ich mit dem Klang berstender Gesteine, ich überdauere den Tag im Angesicht schwelender Feuer und bade des Nachts meine Füße im schwarzen Wasser des Flusses, der meine Stadt aus Finsternis durchzieht. Ich habe auch einen Himmel, er glüht in goldenem Schein, und es gibt Scheusale in den Schatten, die nur darauf warten, mich zu erbeuten. Es ist ein Ort, wo Helden eine Heimat finden. Und manchmal, wenn man das Ohr fest gegen die Haut der uralten
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