Nerd Attack
Überspielen auf Kassette schon in den Siebzigern als Bedrohung für ihre zu dieser Zeit astronomischen Gewinnspannen identifiziert. Der britische Branchenverband der Phonoindustrie rief 1980 daher eine Kampagne namens »Home Taping is Killing Music« (Heimaufnahmen töten die Musik) ins Leben. Das Logo der Kampagne war eine stilisierte Audiokassette mit zwei gekreuzten Knochen darunter, im Stil einer Piratenflagge, und dem Zusatz »and it’s illegal« (und es ist illegal). Die britische Rechtslage war eine andere als die in der Bundesrepublik. Die Warnung wurde auf Plattenhüllen und Plakate gedruckt, hatte aber keinen merklichen Effekt. Der Slogan sorgte allenfalls für Heiterkeit, und noch immer kann man T-Shirts mit der Jolly-Roger-Kassette als ironisch-nostalgischem Motiv kaufen.
Leerkassetten waren in jedem Supermarkt und jeder Drogerie erhältlich so wie jetzt CD- und DVD-Rohlinge. Natürlich wusste man bei BASF, TDK, Maxell und Co., was mit all den Bändern geschah. Seit 1965 bereits bezahlten Hersteller, Händler und Importeure die sogenannte Geräte- und Leermedienabgabe, und ein Teil der Verkaufserlöse wurde an Verwertungsgesellschaften wie die GEMA weitergereicht. Heute werden diese Abgaben auch für DVD- und CD-Rohlinge erhoben, jeder Brenner, jeder Computer und jedes Kopiergerät wird damit belegt.
Wer jedoch eine Band wirklich liebte, der wollte das Original besitzen, wegen der Hülle, den »Liner Notes«, des Covers – und weil Originale einfach besser klangen.
Kopien von Computerdisketten dagegen waren, wenn nichts schiefging, immer so gut wie die Vorlage, manchmal sogar besser. Eine schadhafte Kopie lief in der Regel gar nicht oder verursachte im Spielverlauf Macken, die einem den Spaß an der Sache verdarben, die Software im schlimmsten Fall unbenutzbar machten. Ein gutes Kopierprogramm gehörte deshalb schnell zur Grundausstattung eines jeden C64-Besitzers. Die Heimcomputer der frühen Achtziger waren die ersten Geräte, die solche verlustfreien Digitalkopien für den Alltagsgebrauch ermöglichten. Der Sprung zum perfekten Duplikat war ein großer Schritt nach vorn für Jugendliche mit wenig Geld – und ein zum damaligen Zeitpunkt weitgehend unbeachtetes Menetekel für viele andere Branchen.
In den Chefetagen der Spiele-, der Musik- und Filmindustrie sitzen heutzutage viele Menschen, die wünschen, der Schritt von analog zu digital wäre nie vollzogen worden. Internettauschbörsen, selbst gebrannte CDs und kostenlose, aber illegale Film-Downloads richten, glaubt man den Zahlen der Branchenverbände, jährlich Milliardenschäden an – trotz der Geräte- und Leermedienabgabe.
Kopieren ist langweilig
Für mich als frischgebackenen Besitzer des C64 war die Frage nicht, ob es in Ordnung war, sich raubkopierte Spiele zu verschaffen, sondern nur, wo ich sie herbekam. Kopierte Spiele hatte ich schon häufig gesehen, ich kannte auch die rätselhaften Cracker-Vorspänne, in denen seltsame Spitznamen und Abkürzungen über den Bildschirm scrollten. Woher die Kopien stammten, war mir nicht klar.
Als Erstes ging ich mit einem Zehnerpack Leerdisketten auf Tour durch meinen Freundeskreis. Irgendjemand kopierte mir ein Kopierprogramm, ein paar Spiele bekam ich von den wenigen Jungs in meinem Bekanntenkreis, die auch schon einen C64 ihr Eigen nannten. Mein Geburtsort Würzburg beherbergt eine Universität, eine Fachhochschule und die Regierung von Unterfranken mit allen zugehörigen Ämtern und Behörden, aber kaum Industrie. Würzburgs Schulen waren deshalb voll mit Akademikerkindern, Arzt-, Lehrer- und Juristensöhnen – ein idealer Heimcomputermarkt. Dennoch dauerte es einige Jahre, bis Rechner in Kinderzimmern wirklich verbreitet waren. Meine ersten und üppigsten Kopierfischzüge machte ich denn auch auf dem Land.
Mein Freund Jan lebte mit seinen Eltern auf einem Dorf, eine halbe Stunde Busfahrt von Würzburg entfernt. Dort wohnte auch ein Junge mit dem Spitznamen Easy, der ein paar Jahre älter war als wir Fünftklässler. Easy, der mein erster und ergiebigster Anschluss an ein weltumspannendes Netz von Computerspielern werden sollte, hat mich damals nachhaltig beeindruckt. Er wohnte im ausgebauten Dachstuhl des Hauses seiner Eltern, in einem großen Zimmer mit braunem Teppichboden, das man nur über eine steile Schiffstreppe erreichen konnte. Easy besaß nicht nur einen C64, eine Floppy 1541 und massenweise Disketten voller Spiele – er konnte auch im Zehnfingersystem blind tippen, weil
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