Nerd Attack
wie man beim Pilzesuchen auch keinen Pfifferling stehen lässt, selbst wenn das Gefundene längst fürs Abendessen reicht, kopierten wir so gut wie jedes Spiel, das auch nur im Entferntesten interessant wirkte. Ein Mechanismus, der mir später im Zusammenhang mit Musiktauschbörsen wieder begegnet ist.
Die meisten meiner alten 5,25-Zoll-Disketten enthalten nicht eines, sondern vier oder fünf Spiele. Ich besaß also Hunderte von Schwarzkopien im Wert von wohl weit über 10 000 D-Mark. Spiele kosteten im Handel in jenen Tagen 40, 50, manchmal auch 150 D-Mark und mehr. Besonders für Importe aus den USA mussten astronomische Summen bezahlt werden.
In meiner gewaltigen Sammlung finden sich nur etwa vier oder fünf Spiele, die ich tatsächlich ordentlich erworben habe, meist weil die Verpackung zusätzliches Material wie Landkarten oder ausführliche Anleitungsbücher enthielt. Ein flaues Gefühl im Magen hatte ich gelegentlich schon, auch weil es immer wieder Gerüchte über Ermittlungen und Razzien bei Spieletauschern gab sowie über ernorme Schadensersatzforderungen der Branche. Im Unrecht aber fühlte ich mich nie – warum viel Geld für Spiele ausgeben, die ich vielleicht nur ein einziges Mal spielte und dann nie wieder?
Nach heute geltendem Recht waren die Cracker-Gruppen organisierte Kriminelle. Das Urheberrecht verbietet inzwischen ausdrücklich das bewusste Aushebeln von technischen Kopierschutzmaßnahmen. In den Achtzigern war die Rechtslage noch weniger eindeutig, und wirklich bedroht fühlte sich kaum einer der Cracker oder der Nutznießer von Cracker-Aktivitäten. Fragt man Teut Weidemann, ein Szenemitglied der ersten Stunde und heute ein gefragter Berater der deutschen Spielebranche, ob er und seine Freunde damals nicht auch ein bisschen Angst hatten, antwortet er: »Nein, wovor denn? Es gab da kein Risiko.«
De facto hatte das, was da geschah, mit organisiertem Verbrechen auch wenig zu tun: Es wurde nämlich kein oder kaum Geld damit verdient. Die meisten Cracker knackten Kopierschutzmechanismen aus rein sportlichen Motiven. »Es gab auch einen Dunstkreis von Leuten, die davon gelebt haben, Software zu verkaufen«, erinnert sich Weidemann, »die haben wir aber eher ein bisschen verachtet.« Ein schwedischer Szeneveteran mit dem Alias »Newscopy« formulierte es 2006 so: »Was diese Gruppen zum Vergnügen aktivitätshungriger Teenager taten, gleicht dem, was [die Internet-Tauschbörse] Napster in den späten Neunzigern für die Musik tat: Sie gaben den Kids unbegrenzten Zugang zu Unterhaltung.«
Mainstream war damals wie heute nur das Kopieren, nicht das Knacken von Kopierschutzmechanismen. Teut Weidemann schätzt, dass »die absolute Spitze der Pyramide, die Leute, die wirklich neue Spiele hatten und in Umlauf brachten, bundesweit maximal 150 bis 200 Leute waren«. Aktiv, wenn auch auf niedrigerem Niveau, waren aber wohl weitaus mehr – allein die heute im Internet zugängliche Szenedatenbank [CSDb] listet weit über 500 deutsche Cracker-Gruppen auf. Sie waren zunächst vor allem regional aktiv, verteilten Raubkopien im eigenen Umfeld. Von dort verbreiteten sich die geknackten Spiele kaskadenartig über informelle Netzwerke auf Schulhöfen, in Sportvereinen und auf Bolzplätzen über die ganze Region. »In jeder Gruppe gab es einen, den jeder kannte, der gab ein Spiel an 20 Bekannte weiter, die kannten wieder 100 andere Leute und die wieder 500 weitere«, erklärt Weidemann das Prinzip. Die Entwickler der ersten Internettauschbörsen taten im Grunde nichts anderes, als diese spontan entstandene, dezentrale Organisationsform zum Konstruktionsprinzip ihrer Software zu machen.
Von der immer professioneller agierenden Maschinerie, die für unseren Nachschub sorgte, wussten meine Freunde und ich nichts. In der Hochphase des C64, ab Mitte der Achtziger, war die Flut der Veröffentlichungen gewaltig. Man habe »pro Wochenende 20 bis 50 Spiele zum Testen und Cracken gehabt«, sagt Weidemann. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er bereits in der Spielebranche und hatte genügend Geld übrig, sich ab und zu mal ein Original zuzulegen. Falsch erschienen ihm die Kopiersitzungen am Wochenende aber selbst dann noch nicht, als er Geld mit der Entwicklung neuer Spiele verdiente: »Der Gedanke ans Aufhören ist mir nie gekommen.« Die meisten Spiele habe man ja ohnehin nur mal ausprobiert.
Weil meine Freunde und ich nicht den Ehrgeiz hatten, an neue Spiele immer sofort, möglichst kurz nach dem Erscheinungsdatum
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