Nerd Attack
er auf die Realschule ging und dort Schreibmaschinenkurse angeboten wurden. Das erste Mal, als Jan mich nach Schulschluss und einer endlos langen Busfahrt hinaus aufs Land zu Easy mitnahm, erlebte ich als Ehrfurcht gebietendes Ereignis. Da saß ein schlaksiger, eher schweigsamer Junge mit Stahlgestellbrille und Bauchansatz vor seinem 64er, seine Finger flogen über die Tastatur, und das Diskettenlaufwerk ratterte in einem fort. In den Zimmerecken unter der Dachschräge stapelte sich Exotisches, Faszinierendes: Actionfiguren, Plastikraumschiffe, Brettspiele, ein ferngesteuertes Auto, Science-Fiction- und Fantasy-Romane. An der Wand hing ein Poster, das einen muskelbepackten Donald Duck mit einer Bazooka im Anschlag zeigte, mit der Aufschrift »Rambo Duck«. Easy war schon ein Nerd, bevor das Wort in die deutsche Jugendsprache Eingang fand.
Trotz der Schätze in den Zimmerecken interessierte ich mich fast nur für den braunen Rechner auf der vollgemüllten Spanplatte auf zwei Sägeböcken, die Easy als Schreibtisch diente. Und für die mächtige Diskettenbox, die danebenstand. Wir verbrachten einen langen Nachmittag damit, Spiele ins Laufwerk zu schieben, kurz auszuprobieren und sie danach auf die Liste der zu kopierenden zu setzen oder eben nicht. Dann lauschten wir stundenlang dem Tackern und Stöhnen der 1541. In regelmäßigen Abständen musste der Verschluss des Laufwerks betätigt werden, um Disketten herauszunehmen und andere hineinzuschieben. Eine Diskette für den C64 mithilfe nur eines Laufwerks zu kopieren erforderte es, einen möglichst großen Teil des Inhalts in den 64 Kilobyte kleinen Arbeitsspeicher des Computers zu laden. Weil auf eine Diskette aber etwa 170 Kilobyte an Daten passten, musste der Kopiervorgang auf mehrere Runden verteilt werden. Zum Vergleich: Ein dreißigseitiges Textdokument benötigt im Format eines gängigen Textverarbeitungsprogramms etwa 130 Kilobyte Speicherplatz.
Das ständige Öffnen und Schließen des Laufwerks, das Herausziehen und Einführen von Disketten wurden schnell zu einem geübten, aber auch zunehmend verhassten Handgriff, ebenso wie das elegante einhändige Umdrehen. Die Leerdisketten von Verbatim oder der Luxusmarke »Elephant« waren in der Regel dazu gedacht, einseitig beschrieben zu werden. Man konnte jedoch ihre Kapazität mit einer einfachen Papierschere verdoppeln: Knipste man an der richtigen Stelle im oberen Zehntel des rechten Randes der Plastikhülle, in der sich der eigentliche Datenträger verbarg, ein Loch bestimmter Größe, war die Diskette plötzlich nicht mehr ein-, sondern zweiseitig beschreibbar. Nie wieder in der Geschichte der Computer hat sich Speicherplatz so einfach verdoppeln lassen. C64-Besitzer, die etwas auf sich hielten, besaßen einen eigenen Diskettenlocher, mit dem sich rechteckige Aussparungen von genau der richtigen Größe in die Plastikhüllen stanzen ließen.
Den Nachmittag im Dachzimmer verbrachten Jan und ich zum großen Teil auf dem Teppichboden sitzend, während Easy das Formatieren und Kopieren übernahm. In Wahrheit langweilten wir uns fürchterlich. Gleichzeitig war ich nervös und eingeschüchtert von dem unglaublich cool wirkenden älteren Jungen mit dem lässigen englischen Spitznamen, der so routiniert und selbstverständlich mit Rechner, Laufwerk und Software hantierte. Richtig genießen konnte ich den Raubzug erst, als ich wieder zu Hause in meiner Nische hinter dem Schrank saß und mich nach und nach durch die Schätze arbeiten konnte, die Easy mir einfach so, ohne jede Gegenleistung, überlassen hatte.
Welche Spiele das waren, weiß ich heute nicht mehr. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass »Jumpman Junior« dabei war, aus heutiger Sicht ein echter Klassiker das amerikanischen Software-Hauses Epyx, das später durch »Summer Games« und »Winter Games« weltberühmt wurde. In »Jumpman Junior« musste eine winzige, aus wenigen Pixeln zusammengesetzte Spielfigur vor schwarzem Hintergrund über Leitern und Plattformen gelenkt werden und Pixel-Pillen einsammeln. Gelegentlich schossen von rechts oder links, oben oder unten kleine weiße Projektile durchs Bild. Wenn es dem Spieler nicht gelang, durch Hüpfen oder Rennen auszuweichen, stürzte der Jumpman ab. Der Musik-Chip des C64 spielte dann eine blechern dröhnende Version der ersten Takte von Chopins Trauermarsch. Nach drei Fehlversuchen war Schluss.
Das Spiel war trotz seiner Schlichtheit extrem populär, und zwar sogar innerhalb des Commodore-Konzerns.
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