Nerd Attack
überwiegend ignorierten, formierte sich ein Teil der Anonymous-Unterstützer neu, um die Demonstranten in dem nordafrikanischen Land auf ihre Weise zu unterstützen. Bei Twitter etablierte sich der Hashtag » Sidibouzid« als Sammelthema für die Unterstützer der Protestierenden, als in der westlichen Welt noch kaum jemand von dem kleinen Ort in Zentraltunesien gehört hatte, in dem sich am 17. Dezember 2010 der 25-jährige Mohammed Bouazizi aus Protest gegen unfaire Behandlung durch die Behörden und die generelle Perspektivlosigkeit seiner Altersgenossen öffentlich selbst verbrannt hatte. Im Anschluss an die Selbstverbrennung begann in Tunesien der Aufruhr, der zunächst zur Flucht des langjährigen korrupten und diktatorisch regierenden Präsidenten Ben Ali und seiner Familie führte und schließlich auch in anderen arabischen Nationen wie Algerien, Ägypten und dem Jemen Protestbewegungen gegen als korrupt und unterdrückerisch wahrgenommene Regime inspirierte.
Lange bevor die Weltöffentlichkeit Notiz von den Vorgängen in Tunesien nahm, die schließlich, auch dank Facebook, Twitter und dem Internet im Allgemeinen, für panarabische Unruhe sorgen sollten, beobachteten die hochsensibilisierten Internetaktivisten von Anonymus bereits mit wachen Augen die Ereignisse und taten dann einmal mehr das Einzige, was sie aus ihrer Sicht aus der Distanz tun konnten: Sie legten mit Denial-of-Service-Attacken tunesische Regierungs-Websites lahm. Kaum mehr als eine symbolische Geste war das. Aber eine, die Schlagzeilen machte. In Tunesien organisierten die Sicherheitsbehörden unterdessen zunächst unbemerkt eine Internet-Spähaktion von bislang unbekanntem Ausmaß: Über eine auf den Servern von Internetprovidern installierte Software stahlen sie massenweise Passwörter tunesischer Staatsbürger, etwa für Facebook. Als man das in der Zentrale des weltgrößten Social Networks bemerkte, wurde in Windeseile eine zusätzliche Sicherheitsstufe für das Land eingerichtet: Einloggen konnten sich tunesische Nutzer nur noch, wenn sie zuvor einige ihrer Facebook-Freunde anhand von Fotos identifiziert hatten. Der Manipulation der Netzwerkkommunikation durch Geheimdienste war so ein effektiver Riegel vorgeschoben worden. Facebook machte, ohne dass es die Öffentlichkeit richtig wahrnahm, ein bisschen Weltpolitik.
Als die Proteste Ende Januar 2011 auf Ägypten übergriffen, reagierte das Regime des seit Jahrzehnten mit dem Segen der USA regierenden Hosni Mubarak mit einem radikalen Schritt: Zunächst wurde der Versand von Kurznachrichten mittels Blackberry-Handys unterbunden, der Zugang zu vielen Web-Seiten, darunter denen von Twitter, Facebook und sogar Google, gesperrt. Schließlich verschwand das Land fast vollständig aus dem Netz: Ägyptens Provider (auch solche, die Teil internationaler Konzerne sind) stellten ihren Dienst am Kunden ein. Die herrschende Klasse kappte die Verbindungen des eigenen Volkes zum Netz. Die Angst vor dem digital organisierten Protest, vor den womöglich weitere Proteste inspirierenden digital übermittelten Anfeuerungsrufen aus anderen Teilen der Welt war augenscheinlich zu groß geworden. Und das zu einer Zeit, da das Buch »The Net Delusion« (Der Netzwahn) des US-Akademikers Evgeny Morozov im Westen für Furore sorgte, weil der Autor behauptete, Twitter, Facebook und Co. seien gar keine Werkzeuge der Befreiung, das Gerede von den »Twitter-Revolutionen« schlicht Unsinn.
Schon seit Jahren waren ägyptische Sicherheitsbehörden immer wieder gegen Netzaktivisten vorgegangen, hatten Blogger inhaftiert und wegen online geäußerter Kritik am Regime Mubarak zu langen Haftstrafen verurteilen lassen. Junge Ägypter hatten sich die neuen Medien schon seit Längerem verstärkt zunutze gemacht, um Unterdrückung zu dokumentieren und Widerstand zu organisieren. Über mobile soziale Netzwerke riefen sie blitzschnell zu Versammlungen auf, wenn irgendwo Berichte über Polizeibrutalität bekannt wurden, sie filmten prügelnde Polizisten mit ihren Handys oder dokumentierten Übergriffe gegen Frauen, denen Sicherheitsbeamte tatenlos zusahen.
Nun aber wurden auch Twitter und Facebook zu Organisationswerkzeugen. Eine Facebook-Gruppe namens »Revolutionstag gegen Folter, Armut, Korruption und Arbeitslosigkeit« koordinierte die ersten Großdemonstrationen gegen die ägyptische Regierung. Ein Kommentator schrieb auf der Seite: »Wir sind ebenso viele wie in Tunesien. Zehntausende sind auf die Straßen geströmt und
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