Nerd Attack
Internet-Statistikunternehmen Alexa wichtigste deutsche Webseite, was Zugriffszahlen und Reichweiten angeht, ist das deutschsprachige Nachrichtenangebot SPIEGEL ONLINE. Die Dienste und Angebote, die das Netz derzeit prägen und den Löwenanteil der Zeit binden, die Menschen damit verbringen, stammen fast ausnahmslos aus den USA. Das ist nicht allein einem Versagen deutscher Politik geschuldet: Die Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, reichen von der universitären Ausbildung über Finanzierungsmöglichkeiten und Förderung bis hin zur deutschen Krankheit der Behäbigkeit und Risikoscheue. Doch es wird uns nicht vor den Auswirkungen des digitalen Wandels bewahren, wenn wir eine virtuelle Mauer um Deutschland ziehen und nur noch hereinlassen, was der aktuellen Regierungskoalition genehm ist. Wenn die deutsche Gesellschaft nicht aufhört, digitale Technologie entweder als Bedrohung oder als nützliches Überwachungsinstrument im Dienste der Abwehr realer oder imaginärer Gefahren zu betrachten, werden wir sehr bald erstaunt in einer Welt aufwachen, die uns nicht mehr braucht.
Kein Zweifel: Das Internet enthält viele Dinge, die nicht liebenswert, sondern verabscheuungswürdig sind. Kinderpornografie; Bombenbauanleitungen; Versammlungsorte für Menschen mit Essstörungen, Selbstmordabsichten, abseitigen sexuellen Fantasien, terroristischem Hintergrund; grauenvolle Bilder verstümmelter, sexuell erniedrigter oder getöteter Menschen; triviale, langweilige, dämliche, rassistische, antisemitische, sexistische, menschenverachtende Texte im Überfluss. So viel kommunikative Freiheit, wie das Netz sie derzeit bietet, ist immer auch gefährlich.
Ein Konsens über akzeptable Inhalte, über das richtige Ausmaß an Freiheit für das Internet ist nicht in Sicht – und er wird sich auch niemals herstellen lassen. Das Moral- und Geschmacksempfinden von Sittenwächtern aus Dubai, Deutschland, China, Schweden und den USA unter einen Hut zu bringen ist ein utopisches Unterfangen. Wenn man sich auf eine internationale Zensurinfrastruktur einigen sollte, um das Netz sauber zu halten, an wessen Empfinden sollte sich das Sauberkeitsregime orientieren? An den USA, was Gewaltdarstellungen angeht, und an Schweden, was den Sex betrifft? Oder umgekehrt?
Es ist aber auch klar, dass sich für viele Straftatbestände ein internationaler Konsens herstellen ließe: Auf eine klare, unzweideutige Haltung zu Themen wie Betrug, Mord, Diebstahl, Hehlerei oder Menschenhandel könnten sich die meisten Regierungen auf diesem Planeten einigen – wenn man es denn einmal versuchte. Auslieferungsabkommen, Interpol und internationale Kooperation bei der Verbrechensbekämpfung gibt es auch jetzt schon, warum sollte das für Verbrechen, die mit dem Internet im Zusammenhang stehen, nicht ebenfalls funktionieren?
In einer globalisierten Welt sind viele Dinge schwieriger als früher, und das Internet als das erste tatsächlich globale Medium macht dieses Problem besonders deutlich sichtbar. Was nicht heißt, dass es nicht zu lösen wäre. Es gibt auch Beispiele, dass das funktioniert: Auf Videoplattformen wie YouTube beispielsweise findet man praktisch keine Pornografie: Die Geschäftsbedingungen der Betreiber untersagen das Hochladen solchen Materials, und wenn es entdeckt wird, von den Betreibern oder von Nutzern, kann das mit einem Mausklick gemeldet werden, was in der Regel eine zügige Löschung zur Folge hat. Konsequente Plattformbetreiber können in Zusammenarbeit mit einer kooperativen Nutzergemeinschaft einfach und augenscheinlich effektiv Standards durchsetzen.
Auch was den Umgang mit professionellen Verbreitern abscheulichen Materials angeht, ist mehr möglich, als die Politik uns in den vergangenen Jahren glauben machen wollte. Das zeigte zum Beispiel eine Studie der Universität Cambridge: Die Forscher fanden heraus, dass gemeldete Phishing-Seiten, die Bankdaten ausspähen sollten, im Schnitt nach wenigen Stunden aus dem Netz verschwanden – während Seiten mit Kinderpornografie oft noch einen Monat nach der Meldung im Netz standen. Die Effektivität solcher Säuberungsmaßnahmen hänge nicht zuletzt »von den Anreizen für Organisationen ab, dafür angemessene Ressourcen zur Verfügung zu stellen«, schlussfolgerten die Autoren aus ihren Ergebnissen. Die Zusammenarbeit von Providern und Polizeibehörden international zu verbessern ist keine leichte Aufgabe, aber sie ist zweifellos lösbar. Dieser Weg ist deutlich effektiver als jedes Gesetz,
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