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Nerd Attack

Nerd Attack

Titel: Nerd Attack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Stoecker
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für manchen Teenager oder jungen Erwachsenen auf der Suche nach einem originellen Baustein für die eigene Identitätskonstruktion entfaltet die Plattform offenbar gerade durch ihr karges, extremes Regelwerk und die theoretisch absolute Freiheit des Ausdrucks einen starken Sog.
    Wer diese an einen immerwährenden Fiebertraum erinnernde Welt zum ersten Mal betritt, wird nur einen winzigen, unverständlichen Ausschnitt dieser Welt zu sehen bekommen. Möglicherweise wird er nur auf Nahaufnahmen von Frühstücksmüsli stoßen, auf Serien von Bildern vollbusiger Anime-Schönheiten in extrem knappen Schuluniformen, auf ernsthafte, erhitzte Diskussionen über die Frage, ob »Blade Runner« nicht ein überschätzter, prätentiöser Film ist. Und dann wird ihm womöglich ein Bild begegnen, das er tagelang nicht mehr vergessen kann – die Nahaufnahme einer Hautkrankheit, ein verstümmeltes Kriegsopfer, brutale Pornografie. Schlimmstenfalls sogar Kinderpornografie, auch wenn die von den Administratoren in der Regel innerhalb kürzester Zeit gelöscht wird. Oder eine Unterhaltung, in deren Verlauf sich die Teilnehmer einander mit rassistischen, sexistischen, homophoben Beschimpfungen überziehen. Jeder erwachsene Kurzbesucher wird ziemlich bald zu dem Schluss kommen, dass 4Chan ein entsetzlicher, verabscheuungswürdiger Ort ist, etwas, das man verbieten, verschließen, verschwinden lassen sollte.
    Und doch wird die Seite jeden Monat von über 10 Millionen Menschen besucht. 4Chan ist (auch) eine Apotheose der Nerd-Kultur. Begeisterung für Science-Fiction, Fantasy, Animationsfilme, seltsamen Humor, Videospiele und mit all diesen Themen verknüpfte Popkulturzitate stempeln einen dort nicht zum Außenseiter, sondern zum Insider. Es ist eine Art globaler Sammelpunkt für die typische Kundschaft von Hermkes Romanboutique (angereichert mit einer kräftigen Prise Wahnsinn, Tabubruch und Perversion). Gleichzeitig ist die Plattform heute eines der mächtigsten Werkzeuge, die das Internet bislang hervorgebracht hat, eine sich permanent rasend schnell drehende Ideenzentrifuge. Ab und an entwickelt eine Idee die nötige Masse, um herauszufliegen aus der Zentrifuge und sich draußen im übrigen Internet festzusetzen und zu verbreiten. Dann wird aus einer Idee ein »Mem« – so hat der Evolutionsbiologe Richard Dawkins langlebige Gedanken getauft, die sich, ähnlich wie Gene, gewissermaßen selbsttätig fortpflanzen und im Idealfall nach und nach in immer mehr Köpfen, immer größeren Menschengruppen festsetzen, um dort weiterzuleben.
    Ein klassisches 4Chan-Mem sind die Lolcats: Fotos von Katzen, versehen mit kurzen Aufschriften in großen weißen Lettern, die aus dem Katzenbild eine Art Cartoon machen. Die Aufschriften sind stets in einem absichtlich fehlerhaften, kindlich anmutenden Englisch voller falscher Schreibweisen verfasst. Der Name ist ein netztypisches Amalgam von Ideen und Begriffen: Lol steht für »laughing out loud«, ein Begriff aus dem Netzsteno, mit dem in Chats und Foren Zeichen eingespart und möglichst schnell Reaktionen formuliert werden. Eine Lolcat ist also eigentlich eine »Katze, die einen laut auflachen lässt«. Ein klassisches Lolcat-Bild zeigt ein graues Kätzchen, das niedlich in die Kamera blickt, versehen mit der Bildunterschrift »I can haz cheezeburger?« (Etwa: Kann ich einen Cheeseburger haben?)
    Dieses Mem entstand bei 4Chan (wo ein Nutzer auf die Idee kam, den Samstag in »Caturday« umzubenennen und zum offiziellen Kätzchenbildertag zu erklären) und wurde später von einem findigen Web-Unternehmer aufgegriffen, der mittlerweile eine ganze Flotte von Websites betreibt, die von den Nutzern mit bearbeiteten Fotos von Katzen, Hunden und anderem gefüllt werden – und über Werbeschaltungen offenbar einigen Gewinn einbringen. Die Herkunft der Idee und die kleinen Insiderwitze, die sich in Schreibweisen und Querverweisen niederschlagen, kennen und verstehen die meisten Internetnutzer vermutlich nicht. Aber über das Bild einer Katze, die auf einem Kühlschrankregal neben einer Wurst kauert und dabei sagt »Im in ur fridge eatin ur foodz« können eben viele Menschen lachen, nicht nur die Ultranerds von 4Chan.
    Einmal hievte die 4Chan-Nutzerschaft ein Hakenkreuz auf Platz eins der Liste der bei Google aktuell besonders häufig gesuchten Begriffe – bei /b/ hatte jemand den HTML-Code für das Symbol veröffentlicht. Tags darauf standen in der »Hot Trends«-Liste der Suchmaschine plötzlich die Sätze

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