Nesthäkchen 02 - Nesthäkchens erstes Schuljahr
zufrieden sein können?
Ja, Nesthäkchens Weihnachtszensur fiel tadellos aus. In der Haltung ihrer Hefte und Bücher prangte »Sehr gut«. Auf den zweiten Platz kam sie neben ihre Freundin Margot. Wie strahlte Klein-Annemarie, als Fräulein Hering ihr anerkennend die Wange klopfte: »Brav, Annemarie, nun fahre so fort!«
Am glücklichsten aber war Nesthäkchen, als Mutti ihr Töchterchen mit frohem Gesicht in die Arme schloß. »Du hast mir eine große Weihnachtsfreude bereitet, meine Lotte, daß du deinen Fehler so redlich bekämpft hast.«
Heiligabend kam die Belohnung.
Unter dem funkelnden Lichterbaum lag sie. Ein unscheinbares weißes Blatt Papier war es nur. Aber die vier Worte, die es enthielt, erweckten grenzenlosen Jubel bei Nesthäkchen.
»Am dritten Feiertag Kindergesellschaft«, stand darauf. Annemarie hatte vorläufig keinen Blick für ihre anderen Geschenke, selig sprang sie mit dem weißen Zettel um die Weihnachtstafel herum.
Da aber traf ein Ton ihr Ohr - ein leises Piepsen, und gleich darauf helles Tirilieren jäh wandte die Kleine den Kopf in der Richtung, aus der die Vogelstimme erklungen.
»Mätzchen, mein Mätzchen, bist du wieder lebendig geworden?« Nesthäkchen traute ihren Augen nicht. Da hüpfte im Bauer ein zitronengelbes Vögelchen herum, ganz genau so schaute es aus wie das tote Mätzchen. Zutraulich blickte es die Kleine ausmunteren, schwarzen Äuglein an.
»Mätzchen lebt!« Mit beiden Ärmchen umfaßte das kleine Mädchen die Gitterstäbe des Vogelbauers, um dem Vögelchen seine große Liebe zu zeigen.
»Nein, mein Herzchen«, sagte da die hinter der Kleinen stehende Großmama, die gerührt das Glück ihres Lieblings mit ansah, »dein altes Vögelchen ist tot, aber ich habe dir ein neues geschenkt. Ich glaube, daß ich meiner kleinen Annemie jetzt getrost das Tierchen anvertrauen darf, daß sie nicht wieder vergessen wird, für Mätzchen zu sorgen. Ja, kann ich dir vertrauen, Liebling?« Die klaren, gütigen Augen von Großmama drangen Annemarie bis auf den Grund ihrer Seele.
»Ja, Großmuttchen, du kannst mir vertrauen.« Leise, ganz leise flüsterte es Klein-Annemarie.
Klaus hatte ebenfalls ein besseres Zeugnis heimgebracht als im Oktober.
Mutters Drohung mit der strengen Pension schien doch etwas genützt zu haben.
Nesthäkchens Weihnachtsgaben bestanden dieses Jahr nur in Strickarbeiten. Annemarie wollte jedem ihre neue Kunst zeigen. Am meisten von allen freute sich die alte Tante Albertinchen, die stets bei der Bescherung dabei war, über die Pulswärmer, welche Annemarie ihr von ihrem Wunderknäuel gestrickt hatte. Zwar waren sie nur so groß, daß die alte Tante sie gerade über ihre Zeigefinger streifen konnte, aber Tante Albertinchen verwahrte sie trotzdem daheim sorglich in dem Schränkchen, worin ihre Andenken lagen.
Das war diesmal ein ganz anderer Heiligabend wie all die Jahre vorher, als Nesthäkchen nur mit den neuen Spielsachen gespielt hatte. Sie war ja inzwischen ein kleines Schulmädchen geworden und hatte Lesen und Schreiben gelernt. Wie erfreut waren die Eltern über den sauber geschriebenen Wunsch ihrer Lotte! Die erste Geschichte in dem herrlichen Märchenbuch mußte sie natürlich sogleich studieren. Und wenn Hans und Klaus sie auch damit aufzogen, daß sie selbst, wenn sie für sich las, noch immer die Lippen dabei bewegte und mit dem Zeigefinger ängstlich die Zeile festhielt, Nesthäkchen war doch ungeheuer stolz, daß es das Weihnachtsbuch schon allein lesen konnte.
»Du bist ja so nachdenklich, Lotte«, sagte Doktor Braun verwundert im Laufe des Abends, als Klein-Annemarie schon eine ganze Weile in das grüne Tannengeäst gestarrt und kein Wort gesprochen hatte. Das kam bei dem Plappermäulchen nicht oft vor.
»Ich mußte eben bloß mal an Johannisbad denken, weil es da auch immer so schön nach Tannen gerochen hat wie heute hier. Was meinst du, Vatchen, ob die kleinen Meergänschen wohl auch einen Weihnachtsbaum haben und Geschenke bekommen?« »Sicherlich, Frau Meergans hat ja durch ihre vielen Sommergäste einen schönen Verdienst, da wird sie ihren Kleinen gewiß heute eine Freude machen«, lautete die beruhigende Antwort.
»Und die Himbeermizi? Die hat ganz sicher keine Geschenke gekriegt! Ihre Eltern sind ja so arm, daß sie ihr nicht einmal eine Schulmappe kaufen konnten«, überlegte Nesthäkchen weiter. Plötzlich leuchteten Klein-Annemaries Blauaugen noch heller als sonst.
»Vatchen, Mutti, würdet ihr wohl erlauben, daß ich der
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