Nesthäkchen 02 - Nesthäkchens erstes Schuljahr
Zärtlich klopfte Vater dem Töchterchen die Wange. Die Eltern riefen ihr Nesthäkchen fast immer mit dem Kosenamen »Lotte«.
Mutti aber schaute mit feuchten Augen in den nassen Aprilmorgen hinaus. Es wurde ihr unsagbar schwer, nun auch ihr Kleinstes, ihr Nesthäkchen, zur Schule zu geben.
»Erkälte dich nur nicht, meine Lotte, bei dem gräßlichen Wetter; zieh Gummischuhe an, daß du mir keinen Schnupfen kriegst!« sagte sie besorgt.
»Ach was, dann macht Vater mich wieder gesund; er ist ja Arzt«, lachte Nesthäkchen.
Aber als Mutti ihr jetzt Kakao in die Tasse goß und ein Brötchen mit Butter strich, schüttelte die Kleine, die sonst immer bei bestem Appetit war, das Köpfchen.
»Ich kann heute wirklich nichts essen, ich bin ganz satt, und es ist auch schon viel zu spät - da klingelt die Schulglocke ja schon -ach Gott, ich komme sicher nicht mehr zur rechten Zeit!« Damit wollte Annemarie ohne Hut und Mantel zur Tür hinaus; denn von der Straße herauf klang es deutlich »klinglinglingling«.
Vater aber holte das aufgeregte Fräulein wieder zurück. »Das war ja bloß die Straßenbahn, die gerade vorbeifuhr«, beruhigte er sie. »Du hast noch vollauf Zeit, Lotte, nun setze dich mal her und trink und iß. Ein Kind, das nicht gefrühstückt hat, wird nicht in die Schule hineingelassen.«
Wenn Vater in diesem bestimmten Tone sprach, wagte selbst sein Nesthäkchen kein »Aber« mehr. Gehorsam setzte sich Annemarie hin, trank den Kakao und würgte ein Brötchen hinunter. Von ihrer Mappe aber trennte sie sich selbst beim Frühstück nicht, die blieb aufgeschnallt.
Draußen auf dem Treppenflur war die ganze Familie versammelt, als Nesthäkchen nun an Fräulein Lenas Hand zum ersten Mal in die Schule zog.
Vater winkte mit der Hand, Mutti mit dem Taschentuch. Hanne, die Köchin, erschien mit der Markttasche, um sich das Wunder-Nesthäkchen als Schulmädel anzuschauen. Das Stubenmädchen Frieda wedelte mit dem Staubtuch hinter Annemarie her, und Puck, das weiße Zwerghündchen, mit dem Schwanz.
Nesthäkchen aber hatte keine Zeit, sich umzugucken. Das hopste, die Kapuze des blauen Regencapes über das kurzlockige Blondhaar gezogen, selig neben Fräulein Lena durch die Straßen Berlins. Ihr kleiner Regenschirm und die neue Schulmappe hopsten bei jedem Schritt mit.
Klitsch - klatsch - pitsch - patsch - in alle Pfützen ging es achtlos hinein, daß Fräulein Lena von oben bis unten bespritzt wurde.
Plötzlich blieb Annemarie erschreckt stehen.
»Fräulein, ich muß noch mal umkehren, ich habe ja mein neues Frühstückskörbchen vergessen! Ach Gott, sonst bin ich sicherlich, wenn du mich mittags von der Schule abholen kommst, verhungert und mausetot.«
»Ei, Annemie, so schlimm wird es nicht werden. Ihr habt heute noch keinen richtigen Unterricht, nur Schulaufnahme und Stundenplanverteilung, das dauert nicht lange«, beruhigte sie Fräulein Lena.
»Glaubst du, daß viele Kinder da sein werden, Fräulein?« fragte Annemarie rasch getröstet.
»Sicherlich«, meinte Fräulein Lena.
»Das ist fein«, Nesthäkchen vollführte einen Luftsprung mitten in eine Pfütze hinein, daß die Kapuze ihr von den Locken rutschte, »da können wir schön spielen.«
»In der Schule lernt und arbeitet man, Annemie, nur in der Pause darf gespielt werden«, dämpfte das Fräulein ihre Freude.
»Dann will ich überhaupt immer nur Pause haben!« Mit diesem Vorhaben betrat Nesthäkchen die neue Schule.
Klein-Annemarie kannte das große, rote Gebäude mit der hohen Mauer bereits von der Anmeldung her. Aber als sie jetzt zum ersten Mal als richtiges Schulmädel die breiten Steintreppen hinaufstieg, faßte sie doch eingeschüchtert nach Fräuleins Hand. Einen tiefen Knicks machte sie vor dem Hausmeister; ließ der sie auch rein? Sie hatte ja ihren Kakao ausgetrunken. Fräulein Lena nahm ihr draußen auf dem langen Korridor die nassen Sachen ab und hängte sie an einen Kleiderhaken. Dann strich sie ihr die verwehten Locken aus der Stirn und schob sie zur Klassentür.
»So, Liebling, nun geh hinein und paß hübsch auf, was die Lehrerin euch sagt. Ich warte unten im Hausflur auf dich.«
Aber Nesthäkchen hielt Fräuleins Hand fest umklammert.
»Nein - nein, Fräulein - du sollst mit reinkommen, allein habe ich so dolle Angst«, sagte sie.
»Aber du Dummchen, ich kann doch nicht mit in die Klasse kommen; sieh nur, wie verständig die anderen kleinen Mädchen sind, die gehen ganz allein.« Fräulein Lena wies auf mehrere kleine
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