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Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar

Titel: Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Else Ury
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daß sie als fünfzehnjähriges Backfischchen den Entschluß gefaßt hatte, die Eltern und Geschwister allein über das große Wasser zurückgehen zu lassen, bei den Großeltern in Deutschland zu bleiben. In diesen Jahren hatte sie erkannt, wie oberflächlich ihr Leben in Brasilien gewesen war, und daß nur die inneren Werte zählten. Das war ihr besonders bewußt geworden, als Anita als Siebzehnjährige zum zweiten Mal nach Europa herüberkam, um ihre Violinstudien zu vervollkommnen und vor allem, wie sie lachend sagte, ihren treulosen Zwilling heimzuholen. Da hatte sie es täglich, fast stündlich, empfunden, daß sie sich bei all ihrer Liebe zu der Schwester mit dieser ganz auseinandergelebt hatte. Anita war inzwischen eine fertige junge Dame geworden, die sich ihrer Schönheit und ihrer gesellschaftlichen Stellung durchaus bewußt war. Kaum, daß sie ihre Musikstudien ernst nahm. Sie war nur darauf bedacht, Vergnügungen zu genießen und durch ihre Toilettenpracht, durch ihre sprühende Lebhaftigkeit ihre Umgebung zu blenden. Was Marietta Freude machte, ihre guten Bücher, die Berliner Galerien und Museen mit ihren Kunstschätzen, ihre armen Kinder im Hort und in der Kleinkinderkrippe, für die sie nach absolvierter Schulzeit mütterlich sorgte, das alles tat Anita mit einem geringschätzigen Achselzucken ab. »Spießbürgerlich« hatte sie das alles genannt, Mariettas einfachen, aber geschmackvollen Anzug »unmöglich«.
    »Es wird höchste Zeit, daß du wieder nach Sao Paulo zurückkehrst, Jetta«, so hatte sie sich geäußert. »Ich muß dich wieder ganz ummodeln. Sonst halten dich unsere Bekannten am Ende noch für Juans deutsche Erzieherin.« Es sollte scherzhaft klingen, aber der Blick, der Mariettas schlichtes Äußere musterte, war mißbilligend. Und als Marietta ihr antwortete, daß sie Besseres zu tun habe, als sich den ganzen Tag mit bunten Seidenfahnen zu behängen und in den Spiegel zu schauen, da verstand Anita sie gar nicht. Was konnte es denn Besseres geben, als sich so hübsch wie möglich zu machen. Sie hatte Anita für ihre kleinen Schützlinge zu interessieren gesucht, sie mitgenommen in den Kinderhort, ihr erzählt, welch ein Segen diese Einrichtung für die arbeitenden Mütter bedeutete, wenn sie ihre Kleinen inzwischen gut versorgt wußten. Naserümpfend hatte Anita zugesehen, wie die ärmlich gekleideten Kinder freudestrahlend auf die Schwester zuliefen, sie mit zärtlichen Ärmchen umfingen. Aber als Marietta all die Händchen vor dem Essen wusch und das Kleinste gar selbst auf den Schoß nahm, um es zu füttern, wurde es Anita doch zu stark. »Das ist keine Arbeit für eine Tavares! Nimm dir eine Dienerin, die derartige Arbeit macht.« Als wäre es heute, hörte Marietta sich darauf antworten: »Fühlst du denn nicht, was für eine innere Befriedigung mir daraus erwächst, wenn ich diesen armen, kleinen Wesen die Mutter ersetzen kann?« Anita hatte den Kopf geschüttelt, dann aber doch etwas beschämt in die Tasche gegriffen: »Hier ist Geld. Kaufe den armen Kindern hübsche Kleider.«
    »Sie brauchen Notwendigeres, Nita, Wäsche und Schuhe.«
    Aber sie hatte das Geld nicht zurückgewiesen, um die Schwester nicht zu kränken. »Anita ist nicht schlecht, nur grenzenlos verwöhnt und von ihrer eigenen Person vollständig ausgefüllt. Wir sind beide völlig verschieden geworden. Unsere Interessen gehen ganz und gar auseinander.« Es war eine bittere Stunde, in der Marietta diese sie schmerzende Wahrheit zum ersten Male empfunden hatte, und ihr klar wurde daß sie sich von der Genossin ihrer Kinderzeit auch innerlich weit entfernt hatte. Und mit dieser Erkenntnis kam ihr zum Bewußtsein: Ebensowenig wie sie zu Anita paßte, war sie noch für Brasilien geeignet. Sie würde sich dort nicht mehr wohl fühlen, obwohl es ihr Vaterland war. Die Mutter hatte dort ihren Mann und ihre Kinder, sie hatte ihre Musik, die sie ausfüllte. Aber sie? - »Du hättest deine soziale Arbeit, du könntest dort für die Arbeiter eintreten und ihre menschenunmögliche Lage verbessern.« Wie oft hatte sie sich das gesagt. Den Arbeitern des großen Kaffeehauses Tavares ging es nicht schlecht, dafür hatte sich ihre Mutter schon eingesetzt. Die hatten gesunde Wohnungen und ihr Auskommen. Aber auf den anderen Plantagen sah es bös aus. Durfte sie sich den Mut, die Kraft zutrauen, Fremde für ihre sozialen Bestrebungen zu gewinnen? Man kannte drüben nur das Geld. Wenn es gegen die materiellen Interessen der

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