Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
bedurfte es nicht erst ihres erfahrenen Blickes, um das zu erkennen. So lebhaft wie Mariettas Mutter, Frau Annemaries Ursel, einst gewesen, war deren Tochter ja nie. Anita, die Zwillingsschwester, glich darin mehr der Mutter. Marietta war von einer gleichmäßigen, stilleren Heiterkeit. Um so mehr befremdete die Großmama ihr einsilbiges, sichtlich bedrucktes Wesen. Hatte sie in dem neuen, selbsterwählten Berufskreis Verdruß oder Enttäuschungen gehabt? Eigentlich war Frau Annemarie überhaupt nicht so sehr für die soziale Frauenschule gewesen. Marietta war zart, die Tätigkeit, welche die soziale Ausbildung dort erforderte, war sehr anstrengend. Sie hatte ja durchaus nichts dagegen, daß das Kind seine Zeit und Arbeit gemeinnützigen Zwecken weihte. Aber das konnte sie doch wie bisher, unter Anleitung ihrer Tochter Vronli, die in so vielen Wohlfahrtseinrichtungen ehrenamtlich tätig war, weiter fortsetzen. Wozu bedurfte es dazu erst noch jahrelanger Studien? Gerda hatte der Kusine den Floh ins Ohr gesetzt. Weil Gerda die soziale Frauenschule besuchte, mußte auch Marietta das gleiche tun. Dabei lag doch die Sache für beide ganz verschieden. Ihre Enkelin Gerda mußte darauf sehen, sich als Lehrerstochter möglichst bald auf eigene Füße zu stellen, sich vom Vater unabhängig zu machen. Sie mußte daran denken, eine Anstellung als soziale Beamtin zu erhalten. Bei Marietta war das doch nicht nötig. Die Tochter des reichen Kaffeekönigs in Brasilien konnte sich den Luxus einer unbezahlten Tätigkeit, die ihren Neigungen entsprach, gestatten. Man konnte genug Gutes tun, wenn das Herz und der Geldbeutel nur groß genug dazu waren. Dazu brauchte man nicht erst die soziale Frauenschule zu besuchen. Aber daß das Kind so still und bedrückt heimkam, das hatte sie nicht erwartet.
»Also sowenig begeistert bist du von deiner neuen Tätigkeit, Jetta?« Wie stets ging Frau Annemarie gerade auf ihr Ziel los. »Macht nichts, Seelchen. Besser, du siehst gleich im Anfang ein, daß es nichts für dich ist, als daß du dir die besten Jahre deines Lebens damit verdirbst. Mir ist es ganz recht, daß es so gekommen ist.«
»Wie denn?« Ganz erstaunt ließ Marietta die Kirsche vom Löffel wieder auf den Teller zurückgleiten.
»Na, ich denke, du bist unbefriedigt von der sozialen Frauenschule. Sie entspricht gewiß nicht deinen Erwartungen. Sind dir die Lehrkräfte oder die Mitschülerinnen nicht sympathisch?«
Jetzt mußte Marietta lachen. Es klang so silberhell wie stets. »Weder das eine noch das andere, Großmuttchen. Was du für eine rege Phantasie hast. Es hat mir sehr gut in der sozialen Frauenschule gefallen. Die Vorsteherin, Fräulein Dr. Engelhart, scheint eine großartige Frau zu sein. Wir sind alle ganz begeistert von ihr.«
»Hm« - die Großmama zog die Brille hervor, die sie sonst eigentlich nur beim Lesen gebrauchte. »Hm« aufmerksam betrachtete sie dadurch ihr junges Gegenüber. Marietta wurde es ungemütlich unter dem prüfenden Blick der alten Dame. Die Großmama hatte so klare Augen, sie schienen auf dem Grund der Seele zu lesen. Marietta setzte ihre Teller zusammen und trug sie in die Küche. »Damit Frau Trudchen nicht noch hinterherräumen muß.«
Frau Annemarie lächelte verständnisvoll. Sie lächelte über die hauswirtschaftliche Tüchtigkeit der einst als Tropenprinzeßchen in ihr Haus gekommenen Enkelin und über den wahren Grund ihres Ordnungssinnes. Nun, wenn das Kind nicht Rede stehen wollte, sie würde es nicht dazu zwingen. Über kurz oder lang kam Marietta wohl von selbst zu ihr. Sie hatte noch stets mit allem, was sie bewegte, den Weg zu ihr gefunden. Frau Annemarie begab sich in ihr Biedermeierzimmer, ihr ureigenstes Reich. An dem breiten Erkerfenster standen in weißen Porzellantöpfchen Alpenveilchen in allen Farbstufen, vom zartesten Rosa bis zum tiefsten Purpurrot. Großmamas Blumenfenster war vorbildlich. Keiner hatte solch eine segensreiche Hand wie sie bei der Blumenpflege. Wenn der Garten draußen seine Blütenkinder Herbststürmen preisgeben mußte, dann begann es drinnen an Großmamas Erkerfenster zu treiben und zu blühen. Ihren »Wintergarten« pflegte sie ihren Erkerplatz scherzhaft zu nennen.
Sie ließ sich in den mit grünem Rips überzogenen Lehnstuhl nieder. Still lagen die Hände in ihrem Schoß. Nachdenklich suchten ihre Augen das Weite. Dann griffen ihre Hände aber bald nach dem Ausbesserkorb. Langes Müßigsein war nicht ihre Sache. Sie hielt die schadhafte
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