Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
ehemaligen Patienten, daß ihr lieber, alter Geheimrat heute das goldene Fest begeht? Der alte Herr schmunzelt, aber freuen tut's ihn halt doch, daß man ihn noch nicht vergessen hat. Die Gläser klingen, Instrumente und Stimmen erschallen. Manch humorvoll Liedchen besingt das lange Beieinander des alten Paares, gibt dem jungen ein fröhlich Geleit. Reden auf alt und jung, auf Gold und Grün, auf Brasilien und auf die Waterkant. Die in Berlin von Horst begründete Importfirma Tavares & Co. vivat, crescat, floreat! Ja, selbst das neue Nesthäkchen-Heim zu Grotgenheide bekommt sein Hoch. Die Kerzen sind beinahe heruntergebrannt, da schlägt der alte Geheimrat mit zitternder Hand an sein Kelchglas. Mäuschenstille. Großpapa will sprechen.
»Meine geliebte Frau, liebe Kinder!« Ein wenig heiser klingt die Stimme des alten Herrn, aber immer noch fest und markig. »Auf langer, gemeinsamer Wanderung machen wir heute Rast, wir zwei Alten. Von hoher Warte schauen wir zurück, halten Umschau. Durch Täler zieht sich unser Lebensweg, Täler der Arbeit, der täglichen Pflicht. Hinauf zu Höhen strebt er, Wissen zu erforschen, Kunst und Schönheit zu erringen. Nimmer sind wir müd geworden. Bäume haben wir gepflanzt auf unserem Wege, haben sie behütet, gepflegt und gestützt. Sie haben uns unsere Mühen gedankt, sind grad' und stark emporgewachsen, haben Äste und Zweige getrieben. Heute können wir in ihrem Schatten ruhen. Und ist ein Bäumlein auch in fremdes Erdreich verpflanzt, es hat uns Alten doch seinen Ableger geschickt, daß wir unsere Freude an ihm haben sollen. Aber wie das halt so ist, ein anderer Gärtner hat Gefallen an unserem Ableger gefunden, will seinen Garten mit ihm schmücken. Wir müssen's dulden, dulden's auch gern. Rot ist der Weg gezeichnet, den wir Alten zurückgelegt haben, den ihr Jungen heut beschreiten wollt. Liebe sind seine Wegmarken. Aller Witterungsunbill zum Trotz sind wir nicht von unseren Wegzeichen abgeirrt. Und heute ist das Ziel erreicht, die Höhe, von der es sich lohnt, Umschau zu halten. Die Sonne steht nicht mehr im Zenit, goldene Abendsonne strahlt schon milde. Ihr wißt ja, wer meine Sonne gewesen ist auf der Lebenswanderung. Wer mir den Weg erhellt hat, wenn es auch noch so dunkel um mich wurde. Wer mir nicht nur Licht, sondern vor allem Wärme, innige Herzenswärme gespendet hat. Mir und all denen, die sich um uns scharten. Wer sonnige Heiterkeit ausgestrahlt, Schönheit und Glanz auf unser Leben ausgeströmt hat. Meine geliebte Frau, dir, treue Weggenossin, danke ich heute für all deine Liebe, all deine Aufopferung. Möge es uns vergönnt sein, noch eine Strecke Hand in Hand weiterzuwandern.«
Stille herrscht, heilige Stille, als er geendet, als er sich jetzt zu ihr hinunterneigt. Durch das Fenster zittert letzter Abendsonnenstrahl und läßt die Goldblüten in Frau Annemaries weißem Haar aufleuchten.
Nachwort an meine jungen Leserinnen
Alle wollt ihr wissen, ob das Nesthäkchen wirklich gelebt hat und wo es wohnt. Ja, mein Nesthäkchen lebt. Überall lebt es, wo ein Kind der Sonnenstrahl eines harmonischen Elternhauses ist. Wo ein Großmutterlein sich in den Enkeln spiegelt. Wo warmherzige, übermütige Mädchenfreundschaft durch Kinder- und Backfischjahre hindurch sich bewahrt. Wo man arbeitet und strebt, in Stadt und Land, wo man im eigenen Heim Glück und Freude verbreitet: Da überall ist mein Nesthäkchen zu Haus.
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