Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
in Sao Paulo. Und du tust, als ob du in die Fremde wolltest.«
»Ich bin dort fremd geworden, Gerda. Ich bin wohl niemals dort richtig daheim gewesen. Als meine Eltern mich vor einem Jahr bei ihrem letzten europäischen Besuch wieder mit hinübernehmen wollten, habe ich sie himmelhoch gebeten, mich hier in Deutschland meine sozialen Studien vollenden zu lassen. Nur einen Aufschub wollte ich - und ich habe es ja auch durchgesetzt. Aber nun muß ich mich entscheiden. Was soll ich tun? Niemals war ich unentschlossener.«
»Ich weiß immer, was ich will«, sagte Gerda kopfschüttelnd. »Ich habe stets der Gesundheitsfürsorge besonderes Interesse entgegengebracht. Sie war immer mein Ziel. Und du, willst du hier in Deutschland Fabrikpflegerin oder Beamtin an einem Arbeiterheim werden, wenn du nicht nach Brasilien zurückgehst?« Alles, was Gerda sagte, war klar und sachlich.
Marietta schüttelte den Kopf. »Wenn ich hierbleibe, würde ich die Jugendfürsorge für mich als Beruf wählen. Ich habe während der praktischen Arbeit zusammen mit deiner Mutter erkannt, daß es besonders die Kinder sind, zu denen mich mein Herz zieht. Aber es kommt mir wie ein Verrat an unseren armen, brasilianischen Arbeitern vor.« »Ja, Kindchen« - obwohl Gerda die Jüngere war, erschien sie als die überlegenere - »ja, das mußt du mit dir allein abmachen. In so wichtigen Lebensfragen kann einem kein Mensch raten. Was ich an deiner Stelle täte, wüßte ich. Mich würde es viel mehr reizen, drüben in Brasilien soziale Hilfstätigkeit zu organisieren, Neues zu schaffen, als hier ausgetretenen Pfaden nachzugehen. Aber da kommt meine Straßenbahn. Überleg es dir, Jetta - auf Wiedersehen morgen. Und grüße den Großpapa und die Großmama.« Das letzte klang schon von der Plattform der sich in Bewegung setzenden Straßenbahn herunter.
Marietta blickte der zurückwinkenden Kusine nach. Ach, wäre sie doch auch so sicher! Warum wurde es ihr nur immer so schwer, das Rechte zu finden? Anita, ihre Zwillingsschwester, quälte sich niemals mit langen Überlegungen ab. Die tat das, was ihr gerade einfiel, und vor allem, was ihr gefiel. Und auch Kusine Gerda, mit der sie die ganzen Jahre über Freundschaft gehalten hatte, schien nie im Zweifel zu sein über das was sie wollte.
Die Verbindungsbahn von Berlin nach dem Vorort Lichterfelde, die Marietta zur großväterlichen Wohnung benutzen mußte, hatte sich inzwischen schrill pfeifend in Bewegung gesetzt. Mauern mit farbenschreienden Reklamen sausten vorüber, Neubauten, herbstlich buntgefärbte Laubenkolonien. Das junge Mädchen nahm den Faden seiner Gedanken wieder auf.
Beinahe wäre Marietta über ihr Ziel hinausgefahren. Sie war so in ihre Überlegungen vertieft, daß sie erst im letzten Augenblick ans Aussteigen dachte. Nun schritt sie langsam die mit roten Blutbuchen bestandene Villenstraße entlang. In den Gärten trug Baum und Busch ein buntes Herbstkleid. Oh, diese Farben! Vom zartesten Goldton bis zum leuchtendsten Kupfer. Marietta liebte den deutschen Herbst mit seinem letzten Aufglühen der Natur, bevor Winterstille sie umfing, ganz besonders. Unter schneeweißen Wolken schossen die Schwalben im Bogenflug. Sie sammelten sich zur Reise in ferne Sonnenländer.
Und sie selbst zog es nicht heim, in das Sonnenland ihrer Kindheit? Wo die Palmen ihre Blätterdächer vor sengendem Strahl schützend wölbten. Wo die Blumen und Früchte in ganz anderer Schönheit, Größe und Farbenpracht glühten. In das schloßartige Marmorhaus mit den schwarzen Dienern und Dienerinnen, mit all seinem Luxus, all seinem Reichtum? Nein - Marietta schüttelte den Kopf, als habe sie irgend jemand Antwort auf die stumme Frage zu geben. Nein, das hatte sie niemals hier in Deutschland, in der schlicht bürgerlichen Häuslichkeit der Großeltern entbehrt.
Die einfachen Lebensbedingungen hier entsprachen vielmehr ihrer bescheidenen Sinnesart. Freilich, nach den Eltern, vor allem nach der Mutter, hatte sie sich am Anfang sehr gesehnt. Und Anita, ihre Zwillingsschwester, fehlte ihr auf Schritt und Tritt. Auch nach Klein-Juan erwachte öfters die Sehnsucht, besonders an den Sonntagnachmittagen, wenn sich die kleinen Vettern in Lichterfelde bei den Großeltern einfanden. Aber solche Stimmungen waren nur selten. Die wußte die Großmama stets feinfühlend durch Lektüre eines guten Buches, durch irgendeinen gemeinsamen Kunstgenuß oder auch nur durch ein liebes Wort zu zerstreuen. Nein, Marietta hatte es niemals bereut,
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