Neue Zeit und Welt
Dann begann das Festmahl.
Ein junger Mann wurde auf den Schultern von einigen anderen zum Seeufer getragen. Um seinen Hals waren fünf sich windende Kreischer gebunden. Die Umstehenden leierten fünf Minuten lang fremde Worte tonlos herunter, wobei Ollie die Haare zu Berge standen. Auf ein Zeichen von Vieileau hin wurde der Mann samt den Kreischern in den See geworfen. Er ging unter wie ein Stein.
Es wurde rasch deutlich, woher die Vögel ihren Namen hatten. Im Chor stießen sie einen lang anhaltenden, grellen, kreischenden Schrei aus und verstummten wieder.
Der See begann plötzlich zu brodeln. Wo er flach gewesen war, erhoben sich nun dunkle, wogende Wellen, drei Meter hoch. Der See selbst schien Laute zu geben, beinahe wie ein stöhnendes Tier. Gewaltige Dünungen stiegen hoch und wellten sich hinaus, kehrten langsam um und sanken wieder in sich zusammen, verschmolzen, sanken zurück in die fließende Masse, für Jasmines Auge wie riesenhafte, tastende Scheinfüßler. Nach einiger Zeit erschien in der Seemitte ein Strudel, der alle noch oben schwimmenden Blätter in das kalte, schwarze Innere hineinsog, sich dann unverändert aus dem Wasser emporhob wie eine toll gewordene Trichterwolke, der brüllte, schwoll und endlich mit ungeheurer Wucht zurückstürzte in den See.
Wieder wurde alles still.
Die Wasseroberfläche, nun ohne schwimmende Blätter, war regungslos wie Eis, von dunklem Türkisgrün.
Vieileaus Augen drehten sich wieder in die normale Stellung zurück. Sie ging auf Jasmine zu.
»Hier ist Ruhe. Das Festmahl ist vorbei. Das Auge des Stroms ist geschlossen. Hier wird über uns alle der Schlaf kommen.« Sie legte sich hin – alle taten es, dort wo sie standen, und schliefen ein. Jasmine blickte zum Fluss hinauf – der Mond war verschwunden, durch das klare, fließende Wasser nicht mehr sichtbar.
Ollie stieß sie an.
»Das Auge ist geschlossen. Vielleicht können wir fortgehen, ohne es zu wecken.«
Jasmine nickte. Sie liefen zuerst zum Rand der Lichtung, aber dort standen die Bäume so dicht, dass sie sich zwischen zwei benachbarten Stämmen nicht durchzwängen konnten. Stumm trabten sie zurück, vorbei an den Schlafenden, zur zweiten Wassersäule, die sich aus dem See zum fernen Fluss hinauf erhob.
»Schau, sie ist in eine Art Kristall gehüllt«, sagte Ollie und klopfte mit den Fingerknöcheln an die durchsichtige Röhre. Der summende Geysir schoss im Inneren hinauf; außen war er feucht von einem dünnen Gerinne kühlen Wassers, das von oben herabfloss.
Jasmine betastete, klopfte, schnupperte, probierte mit der Zunge. Sie zog die Brauen zusammen.
»Ich glaube nicht, dass das ein Mineral ist«, sagte sie kopfschüttelnd. »Scheint aber ganz dünn zu sein – und biegsam, wie ich meine. Vielleicht irgendein Kunststoff.«
»Ein Loch hineinschneiden?« schlug Ollie vor und zog sein Messer.
»Wenn das ein Geysir ist, der unter dem See entspringt und über hundert Meter zu diesem Fluss hinaufschießt, muss er unter gewaltigem Druck stehen. Wenn wir ein Loch in die Röhre bohren, spritzt nur ein Wasserstrahl heraus – wenn die Röhre dadurch nicht sogar platzt. Und wenn sie platzt, weiß ich nicht, wie wir einen ungehemmt emporschießenden Geysir hundert Meter hoch in die Luft hinaufreiten sollten.«
»Wir könnten in den See hinabtauchen und versuchen, unter den Rand der Röhre zu gelangen, dort, wo sie anfängt, damit wir im Inneren der Röhre hinaufgelangen, wo der Geysir ausgeht.«
Sie dachten an die Szene, die sie eben beobachtet hatten – an das surrealistische Toben des Sees, nachdem Mensch und Kreischer hineingeworfen worden waren; allesfressender Mahlstrom – und schauderten angesichts der Überlegungen, die diese Erinnerung hervorrief.
»Vielleicht als letzten Ausweg«, meinte Jasmine lächelnd.
»Wir könnten versuchen, am Rand der Lichtung an den Bäumen hinaufzuklettern«, sagte Ollie zögernd.
»Sie sind nicht hoch genug.« Jasmine schüttelte den Kopf. »Der Fluss scheint noch weit über den höchsten Ästen zu sein.« Sie zog die Brauen hoch, als ihr etwas einfiel. »Wir könnten aber an der Röhre hinaufklettern. Versuch einmal, die Spitze deines Messers hineinzustecken – wenn sie gut hält, können wir uns, ein Messer in jeder Hand, an der Außenwand hinaufziehen, immer wieder ein Messer herausziehend und weiter oben hineinsteckend.«
Ollie holte aus und stieß den Dolch in die Röhre. Unfaßbarerweise wich die ganze Rundsäule zurück, als die Messerspitze sich
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