Neue Zeit und Welt
die Tiefen des Regenwaldes – zuerst ganz schnell, bevor er sich zu einem gemäßigten, salzigen Strömen herabließ. An den Ufern wuchs hier nicht viel, weil der Boden salzig war, aber überall lagen gebleichte Gebeine wie abgebrochene Todesstängel umher.
Die Küstenlinie war vom Grauweiß einer schmutzigen Salzdecke, und unmittelbar dahinter rückte der Dschungel so nah heran, wie er es wagen konnte. Unsichtbare Vögel riefen, Insekten summten. In der Luft hing Dampf – der eigentliche Grundstoff des Urwalds –, während Tiere schrien oder schwiegen, je nach ihrer Art. Und je tiefer der Junge sich in das dichte Gewirr des Regenwalds hineinschlängelte, um so unerbittlicher wurde er Teil des Dschungels selbst, eine Einzelzelle im Organismus.
Er ließ sich am Kreideufer in den Fluss gleiten und ruhte aus, während die ruhige Strömung ihn nach Südosten trug. Einmal näherte sich von hinten ein Gator und bleckte das Gebiss, aber der Junge scheuchte ihn mit einem scharfen Ausdruck in seiner eigenen Sprache fort, worauf der Gator rasch in den Fluten versank. Die meisten Tiere wussten durch Witterung oder Instinkt: Es war nicht gut, in der Nähe dieses Jungen unüberlegt zu handeln.
Andere kamen heran. Augen, tiefliegend im Laub wie dunkle Edelsteine, hielten eine Weile lautlos Schritt, dann zogen auch sie sich zurück.
Der Junge blieb ruhig, aber wachsam. Er ging davon aus, dass die Welt feindselig sei, fasste das aber als etwas so Selbstverständliches auf, dass ihn das weder störte noch überraschte. Die Dinge standen eben so; er hatte stets überlebt, er würde weiter überleben.
Eine gutmütige Riesenechse stand am Ufer und kaute Palmwedel; als der Junge vorüberglitt, beäugte sie ihn finsteren Blicks. Der Junge sah die Echse, beachtete sie aber nicht, weil sie keine Gefahr darstellte und auch nichts Neues bot.
Es begann leicht zu regnen – dicke, weiche Tropfen, ringsum zerplatzend, teilweise den heißen Dampf in der Luft vertreibend. Im Dickicht glitzerten Dschungelaugen.
Der Junge wusste nicht, was er von dem Stamm zu erwarten hatte, dessen Königin er suchte – nur Gerüchte berichteten von ihm. Manche sagten, er bestehe aus den Eigenbrötlern von einem Dutzend anderer Gruppen, Wesen, die sich zusammengetan hatten, um Utopisches zu suchen, nachdem sie bei ihresgleichen ausgestoßen worden waren. Andere schworen, das sei einst eine Strafkolonie gewesen, die ihre Wächter überwältigt hätte, und nun führe man auf Kosten ahnungsloser Reisender ein Räuberdasein. Wie auch immer, er war gefasst auf alles – als Mensch in einer vorwiegend von Tieren beherrschten Welt fühlte er sich bei Ausgestoßenen zu Hause.
In der Ferne rückte die Hauptgabelung des Alder heran. Der Junge wischte Spinnweben von seinem Gesicht. Von den Bäumen her plötzlich ein Geräusch, ein anhaltendes Stimmengesumme im unteren Tonbereich, beinahe ein Stöhnen. Es stieg und fiel, schwoll an und wurde leiser, wie ein unregelmäßiger Puls des Urwalds selbst, so als rege das Untier sich im tiefen Schlaf.
Der Junge schwamm näher zur Strommitte – um von beiden Ufern möglichst weit entfernt zu sein. Er tat das automatisch, ohne sich bei Entscheidung und Ausführung anzustrengen. Seine Energie war auf die Sinne gerichtet. Sein Handeln blieb unbeeinflusst von Angst oder Zweideutigkeit ebenso wie von besonderer Anstrengung. Sein Denken war stets klar.
Neue Stimmen fielen in das Dröhnen am Ufer ein, gregorianischer Windgesang. Der Junge zog ein Spinnennetz von seiner Nase und tauchte die Hand ins Wasser, um das Klebrige loszuwerden.
Über dem anschwellenden Getöse erhob sich eine Folge von höhnenden Schreien und schließlich ein lang gezogenes Heulen.
»Brüller«, murmelte der Junge.
Brüller waren widerliche Halbmenschen ohne Nasen und Lippen, mit glitschigen, schleimbedeckten Zungen und missgestalteten Fingern. Sie liebten den Kampf und das Töten; das war ihre Art.
Der Junge tauchte und schwamm fast fünf Minuten lang unter Wasser. Als er wieder auftauchte, war das trillernde Heulen leiser geworden. Er stieg aus dem Fluss und trat wieder hinein in die Vegetation.
Schon im nächsten Augenblick wurde er von drei Brüller-Posten überfallen, die sich sabbernd voll bösartiger Freude auf ihn stürzten. Einer hielt seine Beine, der andere die Arme fest, während der dritte einen Knüppel auf seinen Bauch hieb. Der Junge brach zusammen. Als er im Farn lag und nach Luft rang, leckten die drei Wachen seinen ganzen Körper
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