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Neugier ist ein schneller Tod - Neugier ist ein schneller Tod - A Mortal Curiosity

Titel: Neugier ist ein schneller Tod - Neugier ist ein schneller Tod - A Mortal Curiosity Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Granger
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stehe ich. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, nicht jede geisteskranke Person erscheint uns als sabbernder Idiot. Viele wirken so normal wie Sie und ich. Christina Roche ist eine davon. Doch ihr Verstand ist rationalen Argumenten nicht zugänglich, und sie durchschaut die Folgen ihrer Handlungen nicht mehr.«
    »Glauben Sie mir«, beeilte ich mich zu sagen, »ich habe gewiss nicht den Wunsch, Miss Roche oder irgendeine andere Frau am Galgen zu sehen! Genauso wenig, wie ich sage, dass sie völlig normal ist. Ich bin ziemlich sicher, dass sie das nicht ist. Ich werde den Ausdruck in ihren Augen niemals vergessen, als sie mich in ihrem Zimmer entdeckt hat …«
    »Sie waren in großer Gefahr in diesem Moment«, sagte er leise. »Und das werde ich mir niemals verzeihen.«
    »Nun, Miss Roche ist jetzt in Ihrer Obhut, und Sie können sie beobachten, so viel Sie wollen. Bitte, Dr. Lefebre, ich möchte nicht weiter mit Ihnen über dieses Thema reden.«
    Er starrte mich für einen Moment an, dann erhob er sich aus seinem Sessel. »Dann werde ich jetzt gehen. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen meine Gegenwart aufgedrängt habe.«
    Ich zupfte an der Klingel, damit Simms, der Butler, ihn nach draußen führen konnte.
    Während wir betreten dastanden und auf Simms’ Erscheinen warteten, sagte Dr. Lefebre unerwartet: »Ich werde immer daran denken, Miss Martin, wie Sie auf der Fähre gesessen haben, mit dem Wind in den Haaren und leuchtenden Wangen von der Brise. Ich fand Sie bereits damals wunderschön, und später stellte ich fest, dass Sie außerdem intelligent sind – was für eine seltene Kombination!«
    Glücklicherweise erschien Simms in diesem Augenblick und ersparte mir, antworten zu müssen. Ich weiß nicht, was ich hätte sagen sollen. Dr. Lefebre verneigte sich und ging.
    Das war das letzte Mal, dass ich etwas von ihm gesehen oder gehört habe. Und doch ist sein Bild unauslöschlich in meine Erinnerung eingebrannt – genauso, wie mein Bild nach seinen Worten in die seine. Wenn ich jemanden in einer Abschiedsgeste mit einem Taschentuch winken sehe oder auch nur Wäsche auf einer Leine, die im Wind flattert, dann sehe ich Dr. Lefebre mir gegenüber im Eisenbahnwaggon sitzen, mit einem seidenen Schleier über dem Hut. Es ist, als hätte jemand eine Kerze in einem dunklen Zimmer angezündet. Ich höre das Reißen des Zündholzes, die Flamme flackert auf, und plötzlich werden Dinge sichtbar, von denen ich vorher nicht die geringste Ahnung hatte.
    Ich war vielleicht zu schroff gegenüber Dr. Lefebre. Er befand sich in einer schwierigen Situation. Wer verbirgt nicht die eine oder andere peinliche Tatsache, vielleicht um einem Freund behilflich zu sein? Wer zögert nicht, eine Aussage zu machen, die einen Aufruhr zu entfachenvermag? Welcher Arzt ist nicht vorsichtig mit seiner Diagnose? Wie kann er mit einem Außenseiter über jemanden sprechen, der möglicherweise sein Patient wird? Doch ich hatte trotz allem das hartnäckige Gefühl, dass Dr. Lefebre mich in Shore House irgendwie in die Irre geführt hatte.
    Ben würde natürlich erwidern, dass halb London falsche Tatsachen vorspiegelt, wenn schon nicht die ganze Zeit, dann zumindest einen Teil. So ist die Welt nun einmal. Vielleicht hat er Recht. Er hat erzählt, dass er kurz vor seiner Fahrt nach Hampshire einen schrecklichen Mann verhaftet hat, der im Bahnhof von King’s Cross absichtlich ein achtzehn Monate altes Kleinkind zurückgelassen hat. Die furchtbare Not all der ungewollten Kinder landauf, landab war etwas, das mir sehr zu schaffen machte. Meine eigene Kindheit mochte planlos gewesen sein, doch ich war niemals ungeliebt.
    Nicht alle ungewollten Kinder lebten in armen Familien. Auch in bessergestellten Kreisen konnte ein Kind eine »Unannehmlichkeit« werden, vielleicht durch eine Wiederverheiratung oder weil es ein Mädchen geworden war, obwohl man sich einen Knaben gewünscht hatte oder umgekehrt, oder weil es ein unbequemes, schlichtes Kind war und man sich etwas Hübsches, Bezauberndes vorgestellt hatte. Oder, wie im Falle Lucy Cravens, weil man das unglückliche verwaiste Baby mit einem Viertel Anteil am Familienunternehmen war, ein Objekt, das man fürchtete und ablehnte.
    Das Schicksal dieser reichen, ungeliebten Kinder variierte. Manche wurden mit Dienstpersonal allein gelassen, das sich um sie kümmerte, oder auf zum Teil sehr strenge Internate geschickt oder auch nur nach außen hin gut versorgt und seelisch vernachlässigt. »Ein

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