Sterben Sie blo nicht im Sommer
Vorwort
Als bei meiner Mutter ein unheilbarer Hirntumor festgestellt wurde, hatten wir – mein Vater, meine Schwester und ich – in vier Kliniken und sieben Krankenhausstationen über drei Monate lang bis zu acht Stunden täglich die Gelegenheit, das Kleingedruckte im deutschen Gesundheitssystem kennenzulernen. Wir erhielten dabei einige lebenswichtige Lektionen, die nur einen Haken hatten: Man versteht sie erst, wenn man so nah dran ist, dass man am liebsten ganz weit weg sein möchte, mindestens auf Höhe von UDF y-38135539, der am weitesten entfernten bislang bekannten Galaxie. Leider geht es einem dann meist schon so schlecht, dass es keine Alternativen gibt. Deshalb dieses Buch. Wer so schwer erkrankt wie meine Mutter, lebt in der Regel nicht mehr lange genug, um noch aus Erfahrung klüger werden zu können. Erfahrungen, die man sich und denen, die man liebt, sehr gerne ersparen würde. Man muss schon kerngesund sein, um die Zumutungen in Medizin, Reha und Pflege nicht nur zu ertragen, sondern auch zu überleben. Ein Paradox, das ich mit diesem Buch lösen möchte. Es zeigt, welche Regeln man beim Gang über die Reling beherzigen sollte, um sich vielleicht sogar das Leben oder wenigstens seine Würde zu retten. So gilt bei einer Krebsdiagnose etwa: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Denn die intensivste Betreuung, das meiste Mitgefühl, das größtmögliche Interesse von Ärzten und Pflegepersonal erhält man, wenn man sehr jung sehr, sehr krank wird. Schon ab 50, das belegen Studien, genießt man bei Medizinern nämlich kaum mehr Aufmerksamkeit als ein Sauerstoffatom. Überlebenswichtig außerdem: sich niemals abwimmeln lassen. Sollte Ihr Arzt der Meinung sein, der Druck auf der Lunge, der Knoten in der Brust, das eingeschränkte Blickfeld könnten getrost noch ein paar Wochen bis zur Begutachtung warten, erklären Sie ihm, dass Sie auch bereit wären, sich so lange nackt ins Wartezimmer zu legen, bis er sie endlich rausrückt: die Überweisung an den Facharzt. Und noch etwas: Vermeiden Sie Krebsdiagnosen im Hochsommer. Schlimm genug, überhaupt in ein Krankenhaus zu müssen. Noch schlimmer, wenn sich das Ende des Lebens in der Ferienzeit anbahnt. Es ist ja nicht nur ungünstig, ausgerechnet dann in vollen Windeln zu liegen, wenn das Thermometer Rekordtemperaturen anzeigt; das ohnehin knappe Personal könnte urlaubsbedingt zudem derart überlastet sein, dass der Hausmeister Sie in Ihrem Bett zur Strahlentherapie schiebt, gemeinsam mit der Sekretärin vom Empfang. Gut, Sie könnten dabei einiges über die Ferienziele des Klinikpersonals erfahren. Aber Sie haben ja nur noch ein paar Wochen zu leben und deshalb eigentlich andere Probleme. Zum Beispiel die Sache mit dem Essen. Natürlich serviert man Ihnen schon wieder etwas, das Sie nicht runterbringen, weil die Krankheit Ihnen nicht nur ein deutlich vorgezogenes Verfallsdatum, sondern auch massive Schluckbeschwerden beschert. Und das, obwohl nicht mal die »Schwarzwaldklinik« so oft wiederholt wurde wie der Satz: »Würden Sie bitte das Essen püriert servieren.« Es mag daran liegen, dass er etwas weinerlich vorgetragen wurde, denn wegen der grauenhaften Diagnose und der Aussicht, sehr bald ohne Sie auskommen zu müssen, sind Ihre Angehörigen zu ziemlichen Heulsusen mutiert. In solch einer Verfassung Forderungen zu stellen ist, auch dies eine weitere Lektion, ähnlich beeindruckend wie der Widerstand Österreichs gegen den ›Anschluss‹ 1938. Ein Gespräch mit einer Psychoonkologin könnte da vielleicht tröstlich sein, und theoretisch hat so eine Station der potentiellen Löffelabgeber auch so jemanden im Angebot. Praktisch ist sie aber gerade im Urlaub. Oder auf Fortbildung. Oder krankgeschrieben. Und schon hat man seine Antwort auf die Frage, was es noch mal war, wofür sich das Weiterleben lohnt: Lange genug die Augen offen zu halten, um überprüfen zu können, ob sie tatsächlich existiert. Wäre ja schön, mal mit jemandem zu reden. Zumal Ärzte und Klinikpersonal im Umgang mit Patienten und Angehörigen kaum mehr Text haben als Buster Keaton. Bevor Sie Geiseln nehmen, damit Ihnen überhaupt mal jemand mehr als zwei Minuten Aufmerksamkeit schenkt, erfahren Sie hier auch, wie man sich als Patient Gehör verschafft, ohne auf den letzten Metern des Lebensweges noch straffällig zu werden. Wieso man niemals ohne Patienten-Beipackzettel – also Vorsorgevollmacht, Betreuungs- und Patientenverfügung – krank werden sollte. Weshalb die Organisation von
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