Neukölln ist überall (German Edition)
Weltkulturerbe über ein Labor von Wissenschaft, Pädagogik und Architektur bis hin zur modernen Großstadt, in der manifeste Milieus der Bildungsferne eine Renaissance erleben. Vielleicht verstehen Sie jetzt unseren fast scheuen Wahlspruch: »Wo Neukölln ist, ist vorne. Sollten wir einmal hinten sein, ist eben hinten vorne.«
Neukölln ist mehr als die einzige Stadt Deutschlands, die über Integrationsprobleme klagt und eine Hauptschule mit Disziplinproblemen unter den Schülern hat, in der Christiane F. gelebt hat und Filme über den stillgelegten Grenzübergang Sonnenallee gedreht werden. Wenn Sie tapfer dieses Buch weiterlesen, werden Sie zwangsläufig auf Stellen treffen, die geeignet sind, Sie in das alte Klischee Neuköllns zurückfallen zu lassen. Wenn diese Situation eintrifft, lesen Sie dieses Kapitel einfach noch einmal von vorne. Oder noch besser, kommen Sie her und helfen Sie mit.
Neukölln heute
Nachdem ich Ihnen im vorigen Kapitel als Werbeblock die schönen Seiten Neuköllns nähergebracht habe und Ihnen vielleicht sogar etwas Appetit machen konnte, folgt nun das Neukölln von heute. Bösartig formuliert könnte man auch fragen: Was ist aus dem kaiserlichem Rixdorf 100 Jahre, zwei Weltkriege und drei Gesellschaftsordnungen später als Neukölln des 21. Jahrhunderts geworden? Zunächst einmal sind wir keine eigene Stadt mehr, sondern eingemeindeter Teil der deutschen Hauptstadt. Das muss zwar nicht so bleiben, aber bis auf Weiteres ist es so. Wir sind größer geworden als damals. Schon durch den Lauf der Zeit bedingt, sind wir auch moderner geworden und reicher. Wir definieren Armut nicht mehr an Hunger und Schwindsucht hinter den Wohnungstüren. Armut ist heute Konsumrückstand, nicht mehr Existenznot. Die Maßstäbe haben sich verändert: Mir geht es nicht schlecht, weil ich arm und krank bin, sondern weil es meinem Nachbarn besser geht.
Meine Mutter war das elfte von zwölf Kindern. Im biblischen Alter von 99 Jahren verstarb sie 2010. Sie ist in Armut aufgewachsen und hat mir oft davon erzählt. Ich will jetzt niemanden mit den Geschichten davon, »wie’s damals war«, langweilen. Fest steht aber, dass sie mir aus einer Welt berichtete, die heute in Talkshows zu Ohnmachtsanfällen oder dem Ruf nach dem Gerichtshof für Menschenrechte führen würde. Mein Vater wiederum erzählte mir mehr aus der Zeit der nationalsozialistischen Tyrannei, vom Krieg und der Gefangenschaft.
Mit diesen beiden Erzählwelten wuchs ich auf. Inwieweit sie meine Entwicklung geprägt haben, kann ich nicht beurteilen. Geboren im Jahr 1948, kann ich mich selbst erst an die Zeit des Wiederaufbaus etwa ab Mitte der 1950er Jahre erinnern. Unsere Wohn- und Lebensverhältnisse waren so, dass wir heute mit Leichtigkeit viel Raum in einer Reality-Doku erhalten würden. Damals allerdings waren sie nicht besonders ungewöhnlich. Vier Personen in Stube und Küche im Keller neben der Waschküche des Hauseigentümers. Auch wenn der Aufstieg zum konsumorientierten Wohlstandsstaat sich unaufhaltsam vollzog, so kann ich mich doch daran erinnern, dass ein Leben ohne Auto, ohne Flachbildschirm, ohne Handy und ohne PC möglich war. In Kinderzimmern, wenn es sie überhaupt gab, war Elektronik noch nicht bekannt. Ich bin unsicher, ob das heute nicht bereits gegen die UN -Kinderrechtskonvention verstoßen würde.
Zwei Sätze durchzogen meine Kindheit und Jugend wie ein roter Faden: »Junge, du musst lernen, damit du es einmal besser hast als wir!« und: »Wenn du etwas haben willst, musst du dafür arbeiten.« Als junger Mensch fand ich beide Leitmotive meiner Eltern nicht ganz so prickelnd. Ich ahnte damals noch nicht, wie präsent sie mir in meinem späteren Leben noch werden sollten.
Mit dem Prinzip »Willste was, machste was, dann haste was« machte ich schon sehr früh Bekanntschaft. Immer dann, wenn sich Wünsche meldeten, die nach Auffassung meiner Eltern nicht zu den Lebensnotwendigkeiten gehörten, war die Eigeninitiative gefordert. Der Plattenspieler, das Fahrrad, das Kofferradio, die Lederjacke oder das Trampen durch Skandinavien waren Auftraggeber, die keine Rückstellung duldeten. So begann ich schon als kleiner Steppke beim Bauern auf dem Feld Kartoffeln zu stoppeln (Handnachlese hinter der Maschine), das heute Gropiusstadt heißt. Das war mein erstes selbstverdientes Geld.
Die nächste Stufe der Karriereleiter hieß Zeitungsjunge. Dieser Job bescherte mir mein erstes regelmäßiges Einkommen. Nach meiner Erinnerung machte
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