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Neukölln ist überall (German Edition)

Neukölln ist überall (German Edition)

Titel: Neukölln ist überall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Buschkowsky
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ich das so von 10 bis 13 Jahren. Mit 14 ging ich dann in den Ferien regelmäßig in die Fabrik als Hilfskraft. Immer in der ersten Hälfte, denn in der zweiten war ich mit einem Nato-2-Mann-Zelt auf dem Rücken und einem Freund an der Seite auf Achse. 4,95 DM betrug mein Stundenlohn. Viel mehr bekommt eine Bäckereiverkäuferin heute auch nicht. So doll hat sich unsere Gesellschaft in den letzten 50 Jahren wohl doch nicht verändert. Mit 17 fing ich meinen Führerschein an, und mit 18 hatte ich meinen »Kugelporsche«. Während meiner Ausbildung verdiente ich mir als Stadtführer für westdeutsche Gruppen in der Frontstadt recht ordentliches Geld dazu. Ich gebe es zu, wir Jugendlichen waren damals genauso konsumorientiert wie die jungen Leute heute. Allerdings wäre niemand von uns auch nur im Traum auf die Idee gekommen, im Rathaus dafür die Kohle anzufordern. Wenn man etwas erreichen will, muss man reich geboren werden oder etwas tun.
    Aus meiner Sicht sind viele Dinge der Gegenwart nur unter dem eingetretenen Paradigmenwechsel zu verstehen: weg von der Eigenverantwortung hin zu der Erwartung, der Staat trage die Verantwortung für das Wohl jedes Einzelnen und habe für seine Bedürfnisbefriedigung zu sorgen.
    Am 30. Juni 2012 zählte Neukölln 315   652 Einwohner. Davon hatten 128   359 oder 41   % einen Migrationshintergrund, waren »nicht-deutscher Herkunftssprache« (ndH), wie das im Amtsdeutsch heißt. Migranten oder Einwanderer oder Ausländer also. Die Begriffe sind vielfältig, aber keiner ist ganz treffend. Der Lebensrealität am nächsten kommt wohl die Bezeichnung »Einwanderer«. Sie ist aber auch die unbeliebteste. Denn ein Großteil der Politik hat heute immer noch ein Problem damit, zu akzeptieren, dass die Bundesrepublik Deutschland nach den USA und vor Russland die zweitstärkste Einwandererpopulation der Erde aufweist. Der südlichste aller Ministerpräsidenten behauptete noch im vorigen Jahr immer wieder: »Deutschland ist kein Einwanderungsland«. Eine beliebte Lebenslüge der letzten 50 Jahre. Angesichts von 16 Millionen Spätaussiedlern, Asylbewerbern, Flüchtlingen und Scheinflüchtlingen, Anwerbearbeitnehmern (sprich: Gastarbeitern), nachgezogenen Familienmitgliedern, hier geborenen Kindern und Enkelkindern ist das schon ein schneidiger, wenn auch wenig geistreicher Spruch. Rund 20   % beträgt der Bevölkerungsanteil der Migranten in Deutschland insgesamt. Das ist mehr als eine qualifizierte Minderheit.
    Während vielleicht viele von Ihnen an dieser Stelle ausrufen, das ist ja furchtbar, sage ich: »Und das ist auch gut so.« Aber davon später mehr im Text zur demographischen Entwicklung.
    Die statistischen Zahlen bilden allerdings nicht die Realität ab: Es ist davon auszugehen, dass es eine unbekannte Zahl von aus Versehen nicht angemeldeten Bewohnern oder Besuchern gibt. Da das Bürgeramt kein statistisches Merkmal für »illegal« kennt, wissen wir nicht genau, um wie viele Menschen es sich dabei handelt. Wir rechnen in Neukölln mit etwa 10   000 bis 15   000. Hierdurch entsteht ein Anteil von nicht bio-deutscher oder auch ethno-deutscher (sorry, diese Wortungetüme entspringen dem hilflosen Versuch, klare Begriffe zu finden) Bevölkerung von knapp unter 50   %. Ich werde im Folgenden jedoch nur die offiziellen Bevölkerungszahlen zugrundelegen. Der Aspekt der Illegalen bleibt unberücksichtigt.
    Geographisch wie bevölkerungsmäßig ist Neukölln durch die Trennlinie des Teltowkanals in Nord und Süd geteilt. Der heutige Norden entspricht grob dem alten Rixdorf, und der bis an die Landesgrenze nach Schönefeld reichende Süden mit seinen Ortsteilen Britz, Buckow, Gropiusstadt und Rudow setzt sich zusammen aus den 1920 eingemeindeten Dörfern bzw. der in den 1960er Jahren errichteten Neubausiedlung. Die Bevölkerungszahl teilt sich an der Kanalgrenze etwa zur Hälfte. Aufgrund der Althausbebauung mit Substandard, aber dafür billigen Wohnungen war der Nordteil des Bezirks die von den sich niederlassenden Gastarbeitern bevorzugte Region. Hieraus ist in den folgenden Jahrzehnten die Verteilung entstanden, dass 65   % der Einwanderer (82   000) im Norden und 35   % (44   000) im Süden leben. Daraus ergibt sich ein Bevölkerungsanteil von 52   % im Norden und von 28   % im Süden.
    Die Einwanderer selbst stammen aus rund 150 Herkunftsländern. (Spätaussiedler werden in diesem Zusammenhang zu den Einwanderern gerechnet, obwohl dies formal nach dem Staatsangehörigkeitsrecht

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